Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
man die Menschen nicht
     nach dem äußeren Eindruck beurteilen darf. Doch manchmal geht es auch nicht anders. Nehmen wir zum Beispiel uns Erdbeerpflücker.
    Obwohl sie Chinesinnen sind, sind die chinesischen Mädchen eindeutig kultivierte Menschen. Die eine ist Medizinstudentin,
     die andere studiert Betriebswirtschaft. Ich weiß zwar nie, welche welche ist, aber Medizin ist noch kultivierter als Betriebswirtschaft.
     Das chinesische Mädchen aus China hat kurzes Haar wie ein Junge, und sie ist sehr hübsch, außer dass ihre Beine zu dünn sind.
     Das chinesische Mädchen aus Malaysia ist auch hübsch, aber sie hat eine Dauerwelle, |36| was bei chinesischen Haaren nicht gut aussieht. Vielleicht ist es auch genau andersherum. Sie sind nett zu mir, aber sie tuscheln
     und kichern die ganze Zeit, was nervt, wenn man nicht weiß, worüber sie kichern. Ihr Englisch ist grauenhaft.
    Dann kommen Tomasz, Marta und Emanuel. Tomasz ist irgendein langweiliger Beamter, aber er hat sich eine Auszeit genommen,
     weil er sagt, dass er mit dem Erdbeerpflücken mehr Geld verdient – verrückt, oder? Er behauptet, er wäre ein Dichter, was
     natürlich höchst kultiviert wäre, aber dafür gibt es wenig Anhaltspunkte, es sei denn, man zählt die trübseligen Lieder, die
     er singt, wenn Jola in der Nähe ist. Außerdem ist er ziemlich alt, bestimmt über vierzig, und er hat so einen jämmerlichen
     kleinen Bart und Haare fast bis zu den Schultern, wie ein Hippie.
Koschmar!
Außerdem riecht er unangenehm.
    Marta ist gebildet, sie spricht sogar ein bisschen Französisch, aber die römisch-katholische Schulbildung hat viel zu viele
     Regeln und Rätsel, und dafür fehlt es an praktischem Inhalt – es ist wie mit den Westukrainern. Und meine Mutter sagt, katholisch
     ist weniger kultiviert als orthodox. Marta ist nett und freundlich, aber sie hat eine große Nase. Wahrscheinlich ist sie deswegen
     mit dreißig immer noch nicht verheiratet.
    Emanuel ist süß, aber er ist noch nicht mal achtzehn und auch katholisch, wobei er keinen unintelligenten Eindruck macht,
     und er hat immer diesen scheußlichen grünen Anorak an, auch wenn es gar nicht regnet. Er ist natürlich schwarz, aber das macht
     ihn nicht weniger kultiviert, denn jeder kultivierte Mensch weiß, dass Schwarze genauso kultiviert sein können wie alle anderen
     auch. Oft singt er beim Erdbeerpflücken. Er hat eine wundervolle Stimme, aber er singt immer nur Kirchenlieder. Es wäre schön,
     wenn er mal was Lustigeres singen würde.
    |37| Vitali ist undurchschaubar. Er gibt einem nie eine direkte Antwort. Manchmal verschwindet er, und keiner weiß wohin. Er muss
     intelligent sein, denn er spricht gut Englisch und mehrere andere Sprachen, aber seine Manieren sind etwas grob und er hat
     eine goldene Kette mit einem silbernen Taschenmesser um den Hals. Seine Augen sind dunkel und strahlend mit niedlichen gebogenen
     Wimpern, und sein Haar ist schwarz und lockig. Er sieht gar nicht schlecht aus, auf eine proletenhafte, lockige Art. Ich würde
     ihm sieben von zehn geben. Aber er ist nicht mein Typ. Vielleicht ist er Zigeuner.
    Fast ganz unten ist Ciocia Jola (obwohl sie streng genommen nur Martas Tante ist, nennen wir sie alle Ciocia). Sie ist eine
     vulgäre Person mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen, und man sieht, dass sie sich die Haare färbt. (Meine Mutter färbt
     sich auch die Haare, aber bei ihr sieht man es nicht sofort.) Jola behauptet, dass sie früher Lehrerin war, im Kindergarten,
     was gar keine richtige Lehrerin ist, und außerdem behauptet sie, sie wäre hier die Vorarbeiterin, und spielt sich auf, was
     unangebracht und äußerst nervend ist. Sie tut gern ihre Meinung kund, und die ist meistens das Zuhören nicht wert.
    Auf der untersten Stufe ist Andrij, Sohn eines Bergmanns aus dem Donezbecken. Leider sind Bergleute im Allgemeinen primitive
     Typen, für die es schwer ist, kultiviert zu sein, egal wie sehr sie sich anstrengen. Wenn er auf dem Feld arbeitet, kann ich
     seinen Schweiß riechen. Wenn es zu heiß wird, zieht er das Hemd aus und stellt seine Muskeln zur Schau. Okay, vielleicht wölben
     sie sich ganz hübsch. Aber er ist eindeutig nicht mein Typ.
    Was mich angeht, ich bin neunzehn, und alles an mir ist noch im Werden. Dereinst flüssige Englischsprecherin. Hoffe ich. Dereinst
     romantisch Verliebte. Sind Sie bereit, |38| Mr.   Brown? Dereinst weltberühmte Schriftstellerin (wie mein Papa). Ich habe schon angefangen, über das Buch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher