Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
fragt er weiter.
    »Natürlich.«
    »Donezk.«
    »Ah, Donezk. Bergbau.«
    War da eine Spur von Herablassung in ihrer Stimme?
    »Warst du mal in Donezk?«
    »Nein.«
    »Ich bin in Kiew gewesen.«
    »Wirklich?«
    »Im Dezember. Als die ganzen Demonstrationen waren.«
    »Bist du wegen der Demonstrationen gekommen?« Eindeutig herablassend.
    |26| »Ich war da, um gegen die Demonstrationen zu demonstrieren.«
    »Ah. Natürlich.«
    »Vielleicht habe ich dich gesehen. Warst du da?«
    »Natürlich. Auf dem Unabhängigkeitsplatz.«
    »Bei der Demonstration?«
    »Natürlich. Es war unsere orange Freiheitsrevolution.«
    »Ich war auf der anderen Seite. Weiß und Blau.«
    »Die Verlierer.«
    Sie lächelte wieder. Das heißt, ihre weißen Zähne blitzten auf, mehr nicht. Er versucht sich ihr Gesicht vorzustellen, aber
     es gelingt ihm nicht. Nein, es waren nicht nur die Zähne, da war ein Kräuseln um ihre Nase und ihre Augen, ein kleines Zucken
     der Brauen und zwei freche Grübchen, die ihm unter ihren Wangen zublinzelten. Diese Grübchen – er kriegt sie nicht mehr aus
     dem Kopf. War es einfach nur ein Lächeln, oder hat es was zu bedeuten?
    Und wenn es was zu bedeuten hat, hat es zu bedeuten, dass er eine Chance hat? Die Chance auf eine Chance bei ihr? Soll er
     weitermachen? Oder cool bleiben? Eine wie sie – die hat wahrscheinlich an jedem Finger zehn. Lieber wartet er, dass sie den
     ersten Schritt macht. Und wenn sie schüchtern ist, wenn sie beim ersten Schritt ein bisschen Hilfe braucht? Manchmal muss
     ein Mann handeln, um eine Chance herbeizuführen.
    Andererseits, ist das nicht der falsche Ort und die falsche Zeit, Andrij Palenko, um dich wieder mit einer Ukrainerin einzulassen?
     Was ist mit der blonden
angliska rosa
, wegen der du den ganzen Weg nach England gekommen bist – mit dem hübschen blauäugigen Mädchen, das hier auf dich wartet,
     auch wenn sie es selbst noch nicht weiß, ein hochklassiges Mädchen mit Luxus-Ausstattung: Haut wie
smetana
,
angliski
Brüste mit rosa Spitzen, goldener Flaum an den Unterarmen |27| wie Entenkükendaunen und so weiter. Und einen reichen Papa, der vielleicht am Anfang nicht allzu glücklich über die Wahl seiner
     Tochter ist, weil er will, dass sie einen Banker mit Melone wie Mr.   Brown heiratet – welcher Vater wollte das nicht   –, aber wenn er dich kennenlernt, erweichst du sein Herz und er heißt dich willkommen in seinem luxuriösen Heim, wo jedes
     Zimmer ein eigenes Bad hat. Und bestimmt findet er seinem ukrainischen Schwiegersohn auch einen netten kleinen Job. Vielleicht
     sogar ein nettes Auto   … Mercedes. Porsche. Ferrari. Oder so.
    Zugegeben, die Neue aus der Ukraine hat ein paar Vorzüge: hübsches Aussehen, hübsches Lächeln, hübsche Grübchen, hübsche Figur
     mit ein paar Kurven, ordentlich was zum Anfassen, nicht zu dünn, wie diese aufgedonnerten Großstadtschnepfen, die sich zu
     westlichen Streichhölzern runterhungern. Aber sie bleibt ein ukrainisches Mädchen – und davon gibt es jede Menge, wo du herkommst.
     Außerdem ist sie ganz schön hochnäsig. Hält sich für was Besseres. Hält sich für eine hochkultivierte Person mit überlegenem
     Intellekt, und du bist ein unkultivierter Kerl dagegen (na und? Muss man sich deswegen schämen?). Das merkst du an der Art,
     wie sie redet, wie sie mit ihren Worten geizt, als würde sie dir Geld hinzählen. Und dieser lächerliche Zopf, wie diese Gewitterziege
     Julia Tymoschenko, im Pseudo-Folklorestil. Mit einer orangen Schleife daran. Sie hält sich für was Besseres, weil sie aus
     Kiew ist, und du bist aus dem Donbass. Sie hält sich für was Besseres, weil dein Vater Bergmann ist – ein toter Bergmann übrigens.
    Armer Vater. Was für ein Hundeleben. Unter der Erde. Unten bei den Pilzen. Bei Legionen von Geisterkumpeln, die sich im Dunkeln
     drängen und ihre unheimlichen Totenlieder singen. Nein, Andrij kann da nicht mehr runter, auch wenn es die einzige Art zu
     leben ist, die er gelernt hat, die einzige |28| Art, Brot nach Hause zu bringen, die er kennt. Jetzt muss er eben was anderes finden. Was hätte sein Vater gewollt? Es ist
     schon schwer, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, wenn man weiß, was sie erwarten. Aber alles, was sein Vater ein paar
     Tage vor seinem Tod zu Andrij sagte, war: »Sei ein Mann.« Was meinte er damit?
    Als die Stollenstützen nachgaben und die Decke einstürzte, war Andrij auf einer Seite des Einbruchs und sein Vater auf der
     anderen. Er war auf der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher