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Capitol

Capitol

Titel: Capitol
Autoren: Orson Scott Card
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Sicherheitsgründen«, meinten die Russen. »Sie könnten versuchen, gewisse Dinge zu zerstören.«
    Endlich aber erlaubten sie ihm wieder den Zutritt und boten ihm eine Stelle als Laborassistent an. Er akzeptierte. Und frustriert mußte er zusehen, wie sie einen Fehler nach dem anderen machten und die einfachsten Verfahrensregeln außer acht ließen. Und er erkannte, daß es eine ernsthafte Forschung hier nicht mehr gab. Es war genug getan worden, um Somec und die Aufzeichnung von Gehirninhalten auf ziemlich breiter Basis anwenden zu können. Aber es fiel den Russen nicht ein – oder sie durften es sich nicht einfallen lassen –, daß hinsichtlich des Problems der menschlichen Seele noch viel zu tun übrigblieb.
    »Habe ich recht«, fragte ihn der russische Aufsichtsbeamte eines Tages, »wenn ich glaube, daß in Ihrem Schlußbericht erklärt wird, daß diese Schläfer nicht mehr wiederzubeleben sind?«
    »Nicht als das, was sie einmal waren. Nicht als geistig normale menschliche Wesen. Man würde für sie sorgen müssen wie für Kleinkinder.«
    »Und sie haben alle Krebs?«
    »Oder etwas anderes.«
    Gegen Feierabend hörte George einen der Russen beiläufig erwähnen, daß man die Körper der Schläfer alle in die Leichenhalle geschafft habe, um sie zu verbrennen.
    »Was?« fragte George. Er habe richtig gehört, wurde ihm bedeutet. »Aber es sind Menschen! « schrie er den Aufsichtsbeamten in der Halle des Forschungsinstituts an.
    »Unheilbar Kranke, die nie mehr zu einem produktiven Leben erweckt werden können. Nach jedermanns Definition sind sie tot.«
    »Nicht nach meiner!« beharrte George.
    Der Russe lachte. »Sie sind wütend, nicht wahr? Wenn ihr Amerikaner auf dem Schlachtfeld nur halb soviel Elan gezeigt hättet, wären wir vielleicht heute nicht hier.« Und er ging.
    George ging an den Aktenschrank und las noch einmal die Dialoge. Jetzt konnte er leicht die wirkliche Person hinter der Fassade falscher Erinnerungen erkennen. Jetzt liebte er sie alle und beklagte ihren Tod. Jetzt verstand er, warum Aggie ihn verlassen hatte, denn auf lange Sicht konnte all seine Arbeit so leicht zerstört werden, und am Ende bleiben nur die Menschen. Das einzige wirklich Wichtige sind die Menschen, die er kannte, und ihm wurde klar, daß er die toten Schläfer besser kannte als seine Frau, seine Töchter oder sich selbst.
    Selbstmord lag nicht in seiner Natur.
    Deshalb ging er in den Aufzeichnungsraum und löschte seine eigene Aufzeichnung. Dann ging er in das Somec-Labor und injizierte sich Somec in die Venen. Sie würden ihn verbrennen, wenn sie erkannten, daß es keine Hoffnung gab, ihn wiederzubeleben. Aber er würde schlafen und es nicht merken.
    Und inzwischen waren seine Erinnerungen verschwunden, denn er wußte, wer er wirklich war, und er konnte doch nicht mit sich selbst leben. Wer man ist, mag in den Genen fixiert sein, sagte er sich, während das Somec durch seine Gefäße flutete. Aber das bedeutete nicht, daß es einem gefallen muß.

Tausend Tode
     
    Bin ich denn also euer Feind geworden, daß ich euch die Wahrheit vorhalte?
    – Galater 4:16
     
    »Sie werden keine Reden halten«, sagte der Ankläger.
    »Ich habe nicht erwartet, daß man es mir gestatten würde«, antwortete Jerry Crove und heuchelte eine Zuversicht, die er nicht empfand. Der Ankläger war nicht feindselig. Er wirkte eher wie der Schauspiellehrer an einer Oberschule als wie der Mann, der Jerrys Tod wollte.
    »Sie werden es nicht nur nicht gestatten«, sagte der Ankläger, »sondern wenn Sie etwas Derartiges versuchen, wird es Ihnen noch viel schlimmer ergehen. Wir haben Sie vollkommen in der Hand, wie Sie wissen. Wir brauchen nicht annähernd so viele Beweise, wie wir schon haben.«
    »Sie haben überhaupt nichts bewiesen.«
    »Wir haben bewiesen, daß Sie davon wußten«, beharrte der Ankläger freundlich. »Argumentieren hat jetzt keinen Sinn. Von einem Verrat zu wissen und ihn nicht zu melden, ist so, als hätte man den Verrat selbst begangen.«
    Jerry zuckte die Achseln und schaute weg. Die Zelle war nackter Beton, die Tür aus massivem Stahl. Das Bett bestand aus einer an Wandhaken befestigten Hängematte. Die Toilette war ein Eimer mit einem abnehmbaren Plastiksitz. Eine Flucht war nicht denkbar. Ebenso undenkbar war es, daß sich ein intelligenter Mensch mit irgendwas in diesem Raum auch nur fünf Minuten lang gedanklich beschäftigten konnte. In den drei Wochen, die er hier war, hatte sich jeder Riß im Beton und jeder Bolzen an
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