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Cagot

Cagot

Titel: Cagot
Autoren: Tom Knox
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die Decke. »Hast du denn nicht einen ganz guten Universitäts… Universitätsabschluss? Irgendwas Naturwissenschaftliches?«
    »Na ja … ursprünglich habe ich Biochemie studiert, Großvater.
    In England. Da verdient man allerdings nicht besonders. Deshalb habe ich auf Jura umgesattelt.«
    Eine weitere Pause. Das Licht im Zimmer war hell. Schließlich platzte sein Großvater damit heraus:
    »David. Ich muss dir etwas beichten.«
    »Was?«
    »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.«
    Die Stille im Zimmer war erdrückend. Irgendwo im Hospiz ratterte eine mobile Bahre.
    »Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt? Inwiefern?«
    Er studierte das Gesicht seines Großvaters. War das die Altersdemenz, die sich wieder bemerkbar machte? Sicher war David sich da nicht, aber das Gesicht des alten Mannes wirkte wach und bei klarem Verstand, als er fortfuhr.
    »Tatsache ist, dass ich auch jetzt nicht die Wahrheit sage, mein Junge … ich … ich … kann einfach nicht anders, David. Es ist einfach schon zu spät, um mich noch zu ändern. A las cinco de la tarde. Es tut mir leid. Desolada.«
    Das war wirklich eigenartig. David beobachtete den alten Mann beim Sprechen.
    »Ich bin müde, David. Ich … ich … ich … ich muss das jetzt tun. Bitte schau da mal rein … das ist das mindeste, was ich tun kann. Bitte.«
    »Wie?«
    »In die Tüte am Ende … des Betts. Die vom Supermarkt. Sieh mal rein. Bitte!«
    David stand auf und ging zu den Tüten und Koffern, die hinter dem Bett in der Zimmerecke standen. Die knallrote Tüte stach auffällig aus dem desolaten Haufen heraus. Er griff danach und schaute hinein: Es lag etwas mehrfach Gefaltetes aus Papier darin. Eine Landkarte?
    Als Kind war David fasziniert gewesen von Landkarten, von Landkarten und Atlanten. Während er in dem klaren Wüstenlicht, das durch das Fenster kam, jetzt diese auseinanderfaltete, merkte er, dass es sich um ein ausgesprochen schönes Exemplar handelte. Es war eine Straßenkarte alten Stils mit feinen Geländeschattierungen und geschmackvoll dezenter Kolorierung. Wellenlinien in zartem Grau zeigten den Verlauf von Bergen und Hügeln an, Seen und Flüsse waren in poetischem Blau gehalten, grüne Polygone standen für die Marschen im Hinterland des Atlantiks. Es war eine Karte von Südfrankreich und Nordspanien.
    David setzte sich und sah sich die Karte genauer an. Mit blauem Stift waren in den grau gewellten Bergen zwischen Frankreich und Spanien sehr sorgfältig kleine blaue Sternchen eingetragen. Nur ein blaues Sternchen hatte sich in die rechte obere Ecke der Karte verirrt. In die Nähe von Lyon.
    Er sah seinen Großvater fragend an.
    »Nach Bilbao«, sagte der alte Mann, den die Kräfte merklich verließen. »Du musst nach Bilbao fliegen.«
    »Was?«
    »Du musst nach Bilbao fliegen, David. Und von dort fährst du weiter nach Lesaka. Und suchst Jose Garovillo.«
    »Wie bitte?«
    Der alte Mann musste seine letzte Energie aufbieten, um weiterzusprechen; seine Augen trübten sich.
    »Zeig ihm … die Karte. Und dann fragst du ihn nach den Kirchen. Die auf der Karte eingezeichnet sind. Die Kirchen.«
    »Wer ist dieser Mann? Warum sagst du mir nicht einfach, was es damit auf sich hat?«
    »Es ist zu lang her … die Schuld ist zu groß … ich kann nicht… es geht einfach nicht…« Die zerbrechliche Stimme des alten Mannes wurde schwächer. »Und selbst… selbst wenn ich es dir erzähle, würdest du mir nicht glauben. Niemand würde es glauben. Nur der verrückte Alte. Du würdest sagen, dass ich verrückt bin, ein Alter, der nur wirres Zeug redet. Deshalb musst du es selbst herausfinden, David. Aber sei vorsichtig … sei vorsichtig …«
    »Großvater?«
    Sein Großvater wandte sich ab und starrte an die Decke. Und dann, mit schrecklicher Unausweichlichkeit, schlossen sich flatternd die Augenlider des alten Manns. Er war wieder in unruhigen Schmerzmittelschlaf gesunken. Die Morphinpumpe tickte im Leerlauf.
    Lange saß David da und beobachtete, wie sein Großvater vollkommen weggetreten atmete. Dann stand er auf und schloss die Jalousie; die Wüstensonne war ohnehin fast weg.
    Er blickte auf die Landkarte, die auf dem Hospizstuhl lag; er hatte keine Ahnung, was sie bedeutete oder was sein Großvater mit Bilbao und diesen Kirchen meinte. Wahrscheinlich war alles nur irgendein zerzauster Traum, eine plötzlich aufsteigende Jugenderinnerung, im Niemandsland zwischen Klarheit und Demenz. Vielleicht hatte es überhaupt nichts zu bedeuten.
    Ja. So musste es sein.
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