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Alpenlust

Alpenlust

Titel: Alpenlust
Autoren: Willibald Spatz
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1. Vorplatz
    Ein weiterer Jahrhundertsommer. Jeden Tag ein neues, unausweichliches Strahlen von oben. Ein prall blauer Himmel, nicht einmal durch die Andeutung einer Wolke gestört. Es gibt nie wieder Regen, es gibt nie wieder Kälte, es gibt kein Weihnachten mehr. Die Menschen werden bald verstehen, dass es unter diesen Umständen nicht sinnvoll ist, etwas zu unternehmen; sie werden aufhören, zu arbeiten. Man wird sehen, was dann passiert. Vielleicht wird das Leben auf der Erde besser. Man steht nur noch auf, um Getränke zu holen. Man zeugt die Nachkommen, wenn die Nacht am tiefsten ist, weil man ansonsten zu jeder anderen Nachtzeit zu sehr schwitzen würde.
    Birne schwitzte zurzeit einen Liter in zehn Minuten. Für einen Menschen schwitzte Birne viel, er schwitzte gern, da er das Gefühl dabei hatte, dass in seinem Körper etwas passierte. Er hatte kein Transpirationsproblem, denn er stank ja nicht: Sein Hemd war zwar immer leicht feucht vom Schweiß, aber es roch nicht unangenehm. Kaum jemand glaubte ihm das, deswegen sagte er es auch selten zu jemandem, aber er schwitzte dadurch viel selbstbewusster.
    Birne hätte weniger schwitzen können, wenn es ihm möglich gewesen wäre, seinen Mantel auszuziehen. War es ihm aber nicht. Der Mantel war trotz des heißen Sommers notwendig, wegen der Waffe, die er jetzt immer bei sich trug. Ein Polizist im gehobenen Dienst. Ihm war heiß. Er versuchte nicht, sich zu fragen, ob das sein musste.
    Paranoid ist einer, der sich verfolgt fühlt, obwohl er es nicht müsste, weil ihn keiner verfolgt. War er hier, weil die Menschen, die ihn hierher beordert hatten, paranoid waren? Oder stand er aus einem wirklichen Grund hier? Wäre auch nicht gut gewesen. Dann schon lieber paranoid. Aber was für ein Zustand ist das, in dem man die Paranoia vorzieht? Darüber darf man nicht nachdenken, dachte Birne. Die Gedanken überschlagen sich und machen einen fertig, wo man sich einfach nur hätte hinstellen können.
    Birne befand sich auf dem Vorplatz des Augsburger Hauptbahnhofs, um zu schwitzen und wegen der Terrorgefahr. In letzter Zeit hatten die Terroristen wieder verstärkt Koffer stehen lassen, Koffer mit Bomben. Es war nie etwas passiert, weil Männer wie Birne aufmerksam vorher die verlassenen Koffer bemerkten und die Lage entschärften. Manchmal hatten sie sogar das Glück, den Terroristen in flagranti beim Abstellen eines Koffers zu ertappen, und konnten ihn festnehmen. Birne hatte dieses Glück noch nie gehabt, auch nicht das Glück, einen herrenlosen Koffer selbst zu entdecken. Wenn man es genau nahm, gehörte enormes Glück dazu, einen solchen Koffer zu erwischen. Auf den deutschen Bahnhöfen waren zwei oder drei solcher Koffer gefunden worden. Birne wusste es nicht, weil es ihm scheißegal war, als es in den Nachrichten lief und ihn noch nicht direkt betroffen hatte. Dennoch war es eine verschwindend geringe Anzahl verglichen mit der Menge der im Volksmund Inspektoren genannten Kriminalkommissare, die im Moment auf deutschen Plätzen standen und sich vom Sommer fertigmachen lassen mussten. Birne dachte voller Mitleid an seine Kollegen.
    An sich hätte es ihm nicht viel ausgemacht, auf einem belebten Platz zu stehen und auf verdächtige Männer und ihr Gepäck zu achten. Er rechnete nicht damit, dass es ernst werden könnte. Er sah den Mädchen hinterher, die an ihm vorbeigingen und wegen der Temperaturen weniger anhatten als sonst, und freute sich dieses Anblicks. Das hätte ihm genügt als Arbeit. Aber ihm war heiß, weil er in Zivil war und den Mantel tragen musste. Doch das weitaus größere Problem war nicht das nackte Fleisch, sondern das gebratene.
    Birne hatte eine Schwäche für weißes Fleisch, nicht menschliches, sondern zubereitetes. Vor seiner Nase stand ein alter Lieferwagen, der zu einem Hähnchengrill umgerüstet worden war. Es roch gut und Birne hatte Hunger, war aber im Dienst und überlegte, ob das ein Hinderungsgrund war, sich etwas zu gönnen. Der Inhaber des Wagens, dessen Reifen erstaunlich wenig Luft hatten, war vielleicht ein Araber. Er hatte dunkle Haut und verkaufte halbe Hähnchen mit Semmeln, Cola, Fanta und Sprite, sonst nichts. Wer keine Schwäche für gegrilltes Geflügel hatte wie Birne, könnte den Stand unappetitlich finden und fürchten, sich die Vogelgrippe einzufangen, wenn er sich ihm näherte. Der Wagen wirkte nicht sauber, der Mann hatte eine Hand mit einem ziemlich schmutzigen Verband umwickelt. Faul lehnte er am Grill. Er war noch jung,
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