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Alpenlust

Alpenlust

Titel: Alpenlust
Autoren: Willibald Spatz
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war immer kerngesund gewesen, kein Anflug von Grippe, wenn die anderen um ihn in der Straßenbahn schon dem Tod näher als dem Leben waren, musste er nicht mal Rotz hochziehen, nie. Und jetzt lag er da, als ob alles auf einmal gekommen wäre. Birne fragte sich, woran es gelegen hatte, ob er zu müde war, ob er sich mehr schonen sollte den Rest seines Lebens.
    Neben ihm schlief einer, der war, von dem weißen Nachthemd mit blauen Punkten abgesehen, komplett grau: graue Haut, lichter werdende graue Haare, graue Hände, graue Lippen, wahrscheinlich auch graue Augen und graue Zähne. Und tiefe Altmannfalten im ganzen Gesicht, obwohl er jünger sein musste als ein richtig alter Mann. Birne hatte Angst, es musste was bedeuten, dass der neben ihm lag. Hier lagen die Hoffnungslosen, die betreut wurden von Schwestern, denen der Ruf bei jedem strengen Schritt, mit dem sie durch diese trostlose Station jagten, miteilte, dass die Patienten, die hier starben, dies nicht aus der eigenen, ihnen verbliebenen Kraft geschafft hatten. Denen war geholfen worden, als sie damit nervten, das Wenige, das man noch in sie reinschieben konnte, gleich wieder rauszukacken. Elende Krepierer, auf die draußen keiner mehr wartete, deren Tod höchstens ein paar Erbmilllionen freisetzen würde, die jetzt der Wirtschaft zum Totalaufschwung noch fehlten.
    Birne fehlte der Lesestoff. Er sah nicht ein, dass er, ohne Ansprache zu haben, neben diesem praktisch toten Leib liegen musste. Dabei musste er trübe werden. Darüber würde er sich beschweren, sobald er Gelegenheit dazu bekam. Man darf die Toten und die Lebenden nicht ins selbe Schlafzimmer legen. Der atmete auch nur noch schwach. Wenn er starb, was sollte Birne tun? Wegschauen?
    Jemand näherte sich ihrer Tür. Birne rechnete damit, dass dieser Jemand an der Tür vorbeigehen würde, ohne sich für sein Erwachen zu interessieren. Wen konnte es schon interessieren? Jemand stand vor ihrer Tür, der Tür von ihm und dem Sterbenden. Birne musste seine Tür mit einem Toten teilen. Er fand, dass ihm im Augenblick zu viel zugemutet wurde. Er war schließlich umgekippt. Er musste geschont werden. Er war nicht wertlos, er verrichtete einen wichtigen Dienst für die Allgemeinheit: Er schützte sie vor dem Bösen. Und solche Menschen darf man nicht einfach zu den Toten sperren, die brauchen die Lebenden dort draußen. Auch in einem Krankenhaus sollten Menschen wie er nicht neben den Sterbenden liegen, fand er, während dieser Jemand immer noch vor seinem Zimmer stand und vielleicht versuchte, seinen Namen an der Tür zu lesen, oder sich nicht traute hereinzukommen, weil er den Anblick Birnes fürchtete; weil er oder sie, nach einem Blick auf den Toten, Birne anschauen würde.
    Birne fand, während jemand vor seiner Tür zögerte, dass der ihm angemessenste Platz in einem Krankenhaus der neben den jungen Müttern wäre. Man sollte die Hoffnungen einer Gesellschaft immer zusammenlegen, außer man hatte Angst vor terroristischen Anschlägen und dass diese einem alle Hoffnungen auf einmal raubten.
    Birne dachte an eine Bombe im Kreißsaal: eine Katastrophe. Aber er würde überleben und den terroristischen Arschlöchern das Handwerk legen. Wenn er nicht noch einmal aus den Socken fiel und neben einem Grauen landete.
    Die Tür ging auf und Birne war sogar froh, als die junge Polizistin hereinkam. Er erinnerte sich an ihren Namen: Tanja. Sein Gehirn funktionierte, das Gehirn war schließlich das Wichtigste. Solange dein Gehirn funktioniert, dürfen die dir nichts rausschneiden, dürfen die dich nicht für tot erklären.
    Sie hatten ihn noch nicht vergessen da draußen. Sie sagte nichts und kam schweren Schrittes auf ihn zu. Würde, dachte Birne. Sie hatte Angst, ihn durch eine falsche Bewegung zu töten. Sie musste mitbekommen haben, wie es ihn umgehauen hatte. Sie war Zeugin. Und Zeugin bei einem solchen Fall zu sein, bringt einem den Bekannten näher. Da muss man mindestens mal nachschauen, wie es diesem geht.
    Birne ahnte nicht, dass sie es war, die den Notruf abgegeben hatte, die ihm Erste Hilfe geleistet hatte.
    »Fährst du Motorrad? Das wusste ich gar nicht«, sagte Birne und nahm Bezug auf ihre tiefschwarze Lederkluft, in die sie sich gezwängt hatte.
    »Ja, ja, schon ein paar Jahre«, war ihre erleichterte Antwort; erleichtert deswegen, weil sie merkte, dass sie Birne jetzt nicht beim Formulieren möglichst cooler letzter Worte Gesellschaft leisten musste, sondern wenigstens Birne davon ausging, dass das
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