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Brunetti 18 - Schöner Schein

Brunetti 18 - Schöner Schein

Titel: Brunetti 18 - Schöner Schein
Autoren: Donna Leon
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Marinello schenkte den Bemerkungen der Contessa weiter keine Aufmerksamkeit; als Brunetti sich ihr wieder zuwandte, sagte sie vielmehr: »Der Schnee auf den Straßen ist ein schreckliches Problem.« Brunetti lächelte, als seien ihm ihre Schuhe noch gar nicht aufgefallen und als habe er sich diese Bemerkung nicht seit zwei Tagen ständig anhören müssen.
    Nach den Regeln höflicher Konversation war jetzt er mit irgendeiner sinnlosen Bemerkung an der Reihe; er fügte sich in die Rolle und sagte: »Aber für Skiläufer ist es gut.«
    »Und für die Bauern«, ergänzte sie.
    »Verzeihung?«
    »Wo ich herkomme«, sagte sie in einem Italienisch, das keinerlei dialektalen Einschlag erkennen ließ, »haben wir ein Sprichwort: ›Unter dem Schnee ist Brot. Unter dem Regen ist Hunger.‹« Ihre Stimme war angenehm tief; als Sängerin wäre sie ein Alt gewesen.
    Brunetti, ein ausgemachter Stadtmensch, lächelte kleinlaut. »Ich glaube, davon verstehe ich nichts.«
    Ihre Lippen hoben sich - offenbar ihre Art zu lächeln -, und der Ausdruck in ihren Augen wurde milder. »Das soll heißen, dass der Regen einfach wegläuft und nur vorübergehend Gutes bewirkt, während der Schnee auf den Bergen liegt und das Schmelzwasser den ganzen Sommer hindurch langsam abfließt.«
    »Und daher das Brot?«, fragte Brunetti.
    »Ja. So die Überlieferung.« Bevor Brunetti etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort: »Der Schnee hier in der Stadt ist nur eine Ausnahmeerscheinung und so wenig, dass der Flughafen gerade mal für ein paar Stunden geschlossen werden musste; höchstens ein paar Zentimeter. In Alto Adige, wo ich herkomme, hat es in diesem Jahr noch gar nicht geschneit.«
    »Also Pech für die Skiläufer?«, fragte Brunetti lächelnd, indem er sich vorstellte, wie sie in einem langen Kaschmirpullover und Skihosen vorm Kamin eines Fünf-Sterne-Skihotels posierte.
    »Die interessieren mich nicht. Nur die Landbewohner«, sagte sie mit einer Heftigkeit, die ihn überraschte. Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »›Überglücklich wäre der Bauer, würde er die Vorzüge des Landlebens erkennen.‹«
    Brunetti blieb fast die Spucke weg. »Das ist Vergil, oder?«
    »Aus den Georgica«, antwortete sie, indem sie höflich über seine Verblüffung und alles, was sie verriet, hinwegging. »Sie haben das Gedicht gelesen?«
    »In der Schule«, sagte Brunetti. »Und dann noch einmal vor einigen Jahren.«
    »Warum?«, erkundigte sie sich höflich und drehte sich von ihm weg, um dem Diener zu danken, der einen Teller risotto ai funghi vor sie hinstellte.
    »Warum was?«
    »Warum haben Sie es noch einmal gelesen?«
    »Weil mein Sohn es in der Schule gelesen hat, und als er erzählte, es habe ihm gefallen, wollte ich es mir auch noch einmal ansehen.«
    Lächelnd fügte er hinzu: »Meine Schulzeit ist schon so lange her, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte.«
    »Und?«
    Brunetti musste erst nachdenken, bevor er antwortete, so selten bekam er Gelegenheit, über Bücher zu reden. »Ich muss gestehen«, sagte er, während der Diener ihm seinen Risotto servierte, »das ganze Gerede über die Pflichten eines guten Landbesitzers hat mich nicht besonders interessiert.«
    »Welche Themen interessieren Sie denn?«
    »Was die Klassiker zum Thema Politik zu sagen haben«, antwortete Brunetti und bereitete sich darauf vor, dass das Interesse seiner Gesprächspartnerin jetzt unweigerlich nachlassen würde.
    Sie nahm einen kleinen Schluck Wein, neigte ihr Glas in Brunettis Richtung, ließ den Inhalt sachte kreisen und sagte: »Ohne den guten Landbesitzer hätten wir das hier nicht.« Sie nahm noch einen Schluck und stellte das Glas wieder hin.
    Brunetti beschloss es zu riskieren. Er hob die rechte Hand und umschrieb mit ihr einen kleinen Kreis, der den Tisch, die Leute daran und darüber hinaus auch den Palazzo und die ganze Stadt umfassen mochte. »Ohne Politik«, sagte er, »hätten wir das hier nicht.«
    Da sie keine große Augen machen konnte, bekundete sie ihre Überraschung mit einem glucksenden Lachen, das sich zu einem mädchenhaften Kichern steigerte; es half nichts, dass sie eine Hand vor den Mund nahm, nur dass aus dem Kichern zuletzt ein Hustenfall wurde.
    Köpfe drehten sich zu ihnen herum, ihr Mann entzog dem Conte seine Aufmerksamkeit und legte ihr fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Die Unterhaltung verstummte.
    Sie nickte, machte eine abwiegelnde Handbewegung, nahm ihre Serviette und tupfte sich, immer noch hustend, die Augen ab.
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