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Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Titel: Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Autoren: Donna Leon
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zu vertreten habe; eine Auffassung, die sie in dem Entschluß bestärkte, den Namen des Mädchens nicht preiszugeben.
    Brunetti setzte seine Tasse ab. »Also ich fürchte, solange ich nicht weiß, weshalb dieser Mann - Großvater hin oder her - verurteilt wurde, kann ich gar nichts tun.« Sollte ihm in seinem Jurastudium je ein ähnlicher Fall begegnet sein, so hatte er den längst vergessen. »Sieh mal, wenn es ein kleineres Vergehen war wie Diebstahl oder Körperverletzung, dann brauchte man gar keine Begnadigung zu beantragen, dann wäre der Fall längst verjährt, aber wenn es sich um ein Kapitalverbrechen wie Mord handelt, dann wäre vielleicht...« Er überlegte weiter. »Hat sie gesagt, wie lange es her ist?«
    »Nein, aber wenn er nach San Servolo kam, dann muß es vor der Legge Basaglia gewesen sein, und die wurde in den siebziger Jahren erlassen, oder?« fragte Paola.
    Brunetti überlegte. »Hm«, brummte er und setzte nach langem Schweigen hinzu: »Es wird schwer werden, selbst wenn wir seinen Namen rauskriegen.«
    »Wir brauchen den Namen nicht, Guido«, beharrte Paola. »Alles, was das Mädchen will, ist eine hypothetische Antwort.«
    »Und die lautet, daß ich ihr keine Auskunft geben kann, solange ich nicht weiß, um was für ein Verbrechen es sich handelt.«
    »Heißt das, du kannst gar nichts dazu sagen?« fragte sie scharf.
    »Paola«, versetzte Brunetti in ziemlich dem gleichen Ton, »ich bin kein Hellseher. Du würdest doch auch nicht verlangen, daß ich ein Gemälde oder eine Graphik auf ihren Wert taxiere, ohne daß man sie mir zeigt.«
    Beide sollten sich später an diesen Vergleich erinnern.
    »Und was sage ich jetzt dem Mädchen?«
    »Genau das, was du von mir gehört hast. Jeder gewissenhafte Anwalt...«, begann er - ignorierte Paolas erhobene Brauen angesichts dieser absurden Paarung - und fuhr fort: »würde ihr das gleiche antworten. Wie sagt doch dieser Schulmeister in dem Buch, das du ständig zitierst, so schön: ›Fakten, Fakten, Fakten‹? Nun, bis ich oder sonst jemand die Fakten kennt, ist das die einzige Antwort, die sie kriegen wird.«
    Paola hatte unterdessen nachgedacht und entschieden, es lohne sich nicht, noch länger Widerstand zu leisten. Guido handelte nach bestem Gewissen, und seine Antwort wurde nicht weniger glaubhaft dadurch, daß sie ihr nicht gefiel. »Gut, ich werd's ausrichten«, erklärte sie. »Und, danke.« Lächelnd setzte sie hinzu: »Jetzt fühle ich mich selbst wie eine DickensFigur und würde ihr am liebsten sagen, daß sie fünf Millionen Lire an Anwaltskosten gespart hat und losziehen soll, um sie für etwas Schöneres auszugeben.«
    »Du findest für alles ein Zitat aus einem Buch, nicht wahr?« fragte er schmunzelnd.
    Statt einer einfachen Antwort, die bei ihr eine Seltenheit war, erwiderte Paola: »Ich glaube, es war Shelley, der gesagt hat, die Dichter seien die verkannten Gesetzgeber der Menschheit. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht, aber daß die Romanciers die verkannten Tratschonkel dieser Welt sind, das weiß ich gewiß. Egal, welches Thema du wählst, sie haben es schon einmal durchgehechelt.«
    Brunetti schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich überlasse dich jetzt deinen literarischen Höhenflügen.«
    Als er sich hinabbeugte und sie auf den Scheitel küßte, machte er sich auf ein weiteres Zitat gefaßt, aber sie langte nur mit einer Hand nach hinten, tätschelte ihm die Wade und sagte dann: »Danke, Guido. Ich werd's ihr ausrichten.«

4
    D ie beiden, die bei ihnen Rat und Hilfe gesucht hatten, im Leben der Brunettis eher eine untergeordnete Rolle spielten, vergaßen der Commissario und Paola deren Anliegen wieder oder verdrängten sie zumindest. Notgedrungen, soweit es Brunetti betraf, denn ein Polizeiapparat, der angesichts der unkontrollierten Flut von osteuropäischen Einwanderern mit steigenden Kriminalitätsraten zu kämpfen hatte, wäre ebensowenig gegen eine kleine Korruptionsaffäre in einem städtischen Amt vorgegangen, wie Paola sich durch besagte Semikolons bei Calvino von der neuerlichen Lektüre der Goldenen Schale hätte abhalten lassen.
    Als Claudia in der nächsten Vorlesung fehlte, war Paola beinahe erleichtert. Nicht nur, daß sie dem Mädchen ungern die Antwort ihres Mannes überbracht hätte - es widerstrebte ihr auch, sich näher auf das Privatleben oder die außeruniversitären Probleme einer ihrer Studentinnen einzulassen. Früher war das anders gewesen, damals hatte sie sich sehr wohl engagiert, aber wie
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