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Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Titel: Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Autoren: Donna Leon
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genauer sagen, wie er aussah, Signore.«
    »Wie gesagt, Commissario, ein Mann im Anzug. Alle diese Männer hier«, er deutete auf den Fotostapel vor sich, »also, sie sehen alle aus wie Verbrecher.« Vianello sah verstohlen zu Brunetti hin. Es waren drei Fotos von Polizisten dazwischen gewesen, eines von Alvise. »Ich habe Ihnen ja gesagt, er trug einen Anzug«, wiederholte Gravi. »Er sah aus wie einer von uns, jemand, der in einem Büro arbeitet. Und er sprach wie ein gebildeter Mensch, nicht wie ein Verbrecher.«
    Die politische Naivität dieser Bemerkung veranlaßte Brunetti, einen Moment zu zweifeln, ob Signor Gravi wirklich Italiener war. Er nickte Vianello zu, und der nahm die zweite Mappe und reichte sie Gravi.
    Während die beiden anderen zusahen, blätterte Gravi einen kleineren Stapel durch. Bei Ravanellos Bild hielt er inne und sah Brunetti an. »Das ist der Banker, der gestern umgebracht wurde, nicht wahr?« fragte er und deutete dabei auf das Foto.
    »Es ist nicht der Mann, der die Schuhe gekauft hat, Signor Gravi, oder?« fragte Brunetti.
    »Nein, natürlich nicht«, antwortete Gravi. »Sonst hätte ich es Ihnen gleich gesagt.« Er betrachtete erneut das Bild, ein Porträt aus einer Broschüre, in der alle Mitarbeiter der Bank vorgestellt wurden. »Er ist es nicht, aber der Typ stimmt.«
    »Der Typ, Signor Gravi?«
    »Sie wissen schon, Anzug und Krawatte und polierte Schuhe. Blütenweißes Hemd, teurer Haarschnitt. Ein richtiger Banker.«
    Einen Augenblick war Brunetti wieder sieben Jahre alt und kniete neben seiner Mutter vor dem Hauptaltar von Santa Maria Formosa, ihrer Pfarrkirche. Seine Mutter blickte zum Altar auf, bekreuzigte sich und sagte mit flehender, von tiefer Gläubigkeit erfüllter Stimme: »Heilige Maria, Mutter Gottes, um der Liebe deines Sohnes willen, der sein Leben für uns unwürdige Sünder gegeben hat, erhöre meine Bitte, nur diese einzige, und ich will nie mehr um etwas bitten, solange ich lebe.«
    Es war ein Versprechen, das er im Laufe seiner Jugend noch unzählige Male hören sollte, denn wie alle Venezianer vertraute Signora Brunetti stets auf den Einfluß von Freunden an höherer Stelle. Nicht zum erstenmal in seinem Leben bedauerte Brunetti seinen eigenen Unglauben, aber das hielt ihn nicht davon ab zu beten, daß Gravi den Mann, der die Schuhe gekauft hatte, wiedererkannte.
    Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Gravi. »Leider habe ich kein Foto von dem anderen Mann, der die Schuhe noch bei Ihnen gekauft haben könnte, aber wenn Sie bereit wären, mit mir zu kommen, könnten Sie uns vielleicht helfen, indem sie an seinem Arbeitsplatz einen Blick auf ihn werfen.«
    »Sie meinen, ich soll tatsächlich an einer Ermittlung teilnehmen?« Gravi war begeistert wie ein Kind.
    »Ja, wenn Sie dazu bereit sind.«
    »Aber sicher, Commissario. Ich helfe Ihnen gern, soweit es in meiner Macht steht.«
    Brunetti erhob sich, und Gravi sprang auf. Auf dem Weg ins Stadtzentrum erklärte Brunetti ihm, was er von ihm wollte. Gravi stellte keine Fragen, er gab sich damit zufrieden, das zu tun, was man von ihm verlangte, ein guter Bürger, der die Polizei bei einem schweren Verbrechen in ihren Ermittlungen unterstützte.
    Als sie zum Campo San Luca kamen, zeigte Brunetti ihm den Hauseingang, der zu Santomauros Büro führte, und schlug vor, daß Signor Gravi im Rosa Salva etwas trinken sollte, um Brunetti fünf Minuten Vorsprung zu geben, bevor er ihm nach oben folgte.
    Brunetti stieg die inzwischen vertraute Treppe hinauf und klopfte an die Tür zu Santomauros Büro. »Avanti«, rief die Sekretärin, und er trat ein.
    Als sie von ihrem Computer aufblickte und sah, wer es war, wollte sie schon fast aufspringen und wegrennen. »Entschuldigen Sie, Signora«, sagte Brunetti und hob so unschuldig wie möglich die Hände. »Ich hätte gern Avvocato Santomauro gesprochen. In einer amtlichen Angelegenheit.«
    Sie schien ihn nicht zu hören, sondern sah ihn nur an, und ihr Mund ging immer weiter auf, ob vor Überraschung oder vor Angst, hätte Brunetti nicht sagen können. Ganz langsam streckte sie die Hand aus und drückte auf einen Knopf auf ihrem Schreibtisch; sie hielt den Finger darauf gepreßt, stand ganz auf, blieb aber sicherheitshalber hinter dem Schreibtisch. So stand sie da, den Finger auf dem Knopf, und starrte Brunetti schweigend an.
    Sekunden danach wurde von innen die Tür aufgerissen, und Santomauro trat ins Vorzimmer. Er sah seine Sekretärin, stumm und starr wie Lots Weib,
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