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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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mit«, sagte sie und stellte ihm den Rucksack vor die Füße.
    »Aber … was … wie … warum denn?«, stotterte Pablo, vollkommen perplex. Seine Hand strich über seine dicken grauen Strähnen, die der nasse Kamm am Kopf festgeklebt hatte und die sich jetzt, als sie zu trocknen begannen, in unregelmäßigen Wellen nach oben bogen.
    Clara sah ihn mitfühlend an. Er war nüchtern, wahrscheinlich nüchterner, als er in den ganzen letzten Jahren gewesen war. Er war frisch geduscht und hatte sich seinen Bart geschnitten. Seine Hände zitterten, und seine Haut wirkte noch immer fahl, doch seine Augen waren klar. Was würde aus ihm werden, wenn sie ihn jetzt nicht mitnahm?
    Er war nicht etwa hierhergekommen, um seiner Strafe zu entgehen, wie Clara zunächst geglaubt hatte. Nein, er war gekommen, um hier zu sterben, sich totzusaufen, zu ertrinken. Sie seufzte, tastete in ihrer Jacke vergeblich nach ihren Zigaretten und ließ dann die Arme wieder sinken.
    »Weil Sie es nicht gewesen sind«, sagte sie schließlich. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie für etwas büßen, was Sie nicht getan haben.«
    »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Pablo ruhig und sehr viel weniger erstaunt, als zu erwarten gewesen wäre. Nur seine Hände, die sich zitternd an seiner Hemdleiste festhielten und dort langsam auf und ab wanderten, verrieten, wie aufgewühlt er war.
    »Wer soll es denn dann gewesen sein?«, fragte er leise, und seine Stimme zitterte plötzlich wie seine Hände.
    Clara hob hilflos die Arme. »Machen Sie es uns doch nicht so schwer. Es war Ruth, und das wissen Sie ganz genau. Für Ruth wollen Sie das tun, für sie wollen Sie büßen. Ich kann Sie ja verstehen, aber es geht doch nicht …«
    »Warum nicht? Warum soll das nicht gehen?«, unterbrach sie Pablo.
    »Weil Sie es nicht waren, verdammt noch mal!«, rief Clara verzweifelt und fuhr sich durch die Haare. »Ja, Sie haben Ruth nachgesehen, als sie weggegangen ist, ja, das war so. Und Sie haben auch getrunken. Schnaps, Wein, alles, was da war …«
    »… und dann habe ich den Hammer genommen …«
    »Nein!«, widersprach Clara und schüttelte heftig den Kopf. »Ruth war es, voller Entsetzen darüber, was ihr Bruder Ihnen und ihr angetan hat. Ruth hatte allen Grund der Welt, ihn zu töten. Sie, Pablo, sind nicht der Typ, auf diese Weise zu reagieren. Sie haben nach der einzigen Tröstung gegriffen, die Sie kennen, genauso, wie Sie es in all den Jahren immer getan haben: trinken, trinken, trinken, in der Hoffnung, irgendwann einmal dem dumpfen Schmerz zu entkommen.«
    Clara holte tief Luft und versuchte, Pablos Blick auszuweichen, der so voller Schmerz war, dass Sie glaubte, es nicht ertragen zu können. »Aber es hat nicht funktioniert, nicht wahr«, fuhr sie schließlich fort. »Der Schmerz ging nicht weg. Der Schmerz und die Scham und der Ekel vor sich selbst. Und dann, irgendwann haben Sie bemerkt, dass Ihr Werkzeug fehlt. Und da haben Sie begriffen, dass Ruth die Sache selbst in die Hand nehmen würde …«
    Sie unterbrach sich und seufzte. »Sie sind ihr nachgefahren, nicht wahr? Sie waren auch dort, in der Tiefgarage von Imhofens Villa. War Ruth noch da, oder war sie schon weg? Aber ihn, ihn haben Sie dort liegen sehen. Und die Waffe daneben. Sie haben sie aufgehoben und mit nach Hause genommen? Ja? War es so? WAR ES SO??«
    Sie schrie ihn an, und ihre Stimme hallte über den leeren Platz und wurde als leises Echo von den Häusern zurückgeworfen. Schwer atmend ließ Clara die Schultern hängen und sah Pablo an. Sie starrte ihm ins Gesicht, als könnte sie die Wahrheit dort herauslesen, unverwandt, sekundenlang.
    Er war es, der schließlich den Kopf wegdrehte. Clara sah, wie sein Kinn zitterte, seine Unterkiefer, seine Hände. Der ganze Mann zitterte.
    Sie machte keinen Schritt auf ihn zu, versuchte nicht, ihn zu trösten. Sie wartete, reglos, obwohl sie am liebsten geweint hätte.
    Endlich drehte er sich wieder ihr zu. Seine Augen waren dunkel, seine Miene versteinert. »Und wenn es so gewesen wäre? Was dann?«, sagte er leise. »Würde es etwas ändern? Würde es irgendetwas ändern?«
    Ja, wollte Clara sagen, ja natürlich. Es würde alles ändern. Doch sie sagte kein Wort.
    Pablo nickte langsam, und sein verbrauchtes Gesicht verzerrte sich zu einem ungelenken, unbeholfenen Lächeln. »Sie wissen nicht, wie es wirklich war. Es könnte auch ganz anders gewesen sein.«
    Clara sah ihn an. Und dann, nach einer Ewigkeit, als ob sie aus einem Traum erwachte, nickte auch
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