Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
Schelling, der wie ein Geist neben ihr stand und keine Regung zeigte. Clara war nicht einmal sicher, ob er sie verstanden hatte. »Wir fahren jetzt zu ihr, Herr Schelling …«
    »Ich fahre euch«, sagte Willi energisch. »Du fährst heute nirgends mehr hin.«
    Clara gehorchte widerspruchslos. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr überhaupt gelungen wäre, den Schlüssel im Zündschloss umzudrehen, so kraftlos fühlte sie sich.
     
    Der riesige Gebäudekomplex der Klinik war hell erleuchtet. Wie betäubt folgte Clara Willi durch die leeren Gänge, Jakob Schelling wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt stumm neben ihr. Als sie sich der Intensivstation näherten, zog sich Claras Magen schmerzhaft zusammen. Am Eingang, auf einem der Wartesessel neben den Glastüren, saß, in sich zusammengesunken, eine einsame Gestalt. Es war Gruber. Vornübergebeugt kauerte er da und starrte seine Hände an. Als er die Schritte näher kommen hörte, hob er den Kopf. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit, und die Falten um Nase und Mund hatten sich in tiefe Furchen verwandelt.
    In diesem Moment erst begriff Clara, dass es tatsächlich wahr war. Ruth war tot. Sie konnte ihr nichts mehr sagen, sie würde nicht mehr wissen, dass Pablo zurückgekommen war. Sie schluchzte auf und wandte sich ab. Willi legte seinen Arm um sie und schob sie sachte weiter, durch die Glastür hindurch. Gruber, der aufgestanden war, sah ihnen einen Augenblick schweigend nach, dann drehte er sich um und ging den Flur hinunter zum Ausgang.
    Pablo berührte plötzlich Claras Arm. Sie zuckte zusammen. Fast hatte sie ihn vergessen.
    »Kann ich sie sehen?«, fragte er heiser.
    Clara wandte sich an Willi, der nickte zögernd. »Ich denke schon. Ich werde mich darum kümmern.«
    Kurz darauf kam er mit einem Arzt zurück, der sie einen nach dem anderen mit Händedruck begrüßte.
    »Es tut uns leid, aber wir konnten für Frau Imhofen nichts mehr tun«, begann er, wurde aber von Clara unterbrochen. Sie hatte Tränen in den Augen und rote Flecken auf ihren blassen Wangen.
    »Sie hätten dafür Sorge tragen müssen, dass so etwas nicht passiert! Die Frau war in der Obhut Ihrer Klinik!«, fauchte sie.
    Der Arzt wandte sich ihr zu. »Sie sind Frau Imhofens Anwältin, nehme ich an?«, fragte er ruhig.
    Clara nickte kühl und schwieg.
    »Ich verstehe, dass Sie sehr wütend sind. Vor allem nach dem Skandal mit der Klinik, in der sie vorher war …«
    Clara runzelte die Stirn. Woher wusste er von den Geschehnissen in Schloss Hoheneck, wieso sprach er von einem Skandal? Sie sah Willi fragend an.
    »Sie haben vorgestern Dr. Selmany verhaftet«, flüsterte er ihr zu. »Alle Zeitungen sind voll davon.«
    Verhaftet. Selmany ist verhaftet. Die Worte drangen ihr zwar ins Gehirn, sie verstand deren Sinn, aber sie lösten keine Reaktion aus. Zu spät!, höhnte etwas in ihrem Kopf. Alles zu spät.
    Der Arzt hatte unterdessen unablässig weitergesprochen. Clara versuchte, ihm zu folgen. »Sie wurde eigentlich gerade noch rechtzeitig gefunden«, sagte er. »Die Sauerstoffversorgung des Gehirns durch die Arterien war nicht unterbrochen, und auch der Druck, der sich normalerweise durch den venösen Rückstau schnell aufbaut, war noch nicht sehr hoch. Es gab eigentlich keinen Grund dafür, das sie nicht mehr aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht ist.«
    Endlich erreichten Clara seine Worte. »Sie meinen, Sie hätte eigentlich gar nicht sterben dürfen?«, höhnte sie. »Was für ein Pech aber auch! Da sterben einem Patienten weg, die nach medizinischen Erkenntnissen kerngesund sind. Die halten sich nicht an Ihre Regeln. So eine Unverschämtheit von diesen dummen Leuten, einfach zu sterben!«
    Willi drückte ihren Arm und warf ihr einen warnenden Blick zu. Das reicht, sollte er besagen.
    Clara sah weg. Es reichte noch lange nicht. Mit einer hastigen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus den Augen.
    Dem Arzt hingegen schien ihr beißender Spott nichts auszumachen. Wahrscheinlich war er so etwas gewöhnt, dachte Clara böse.
    Er sprach einfach weiter: »Es gibt Patienten, denen kann man trotz aller medizinischen Kenntnisse nicht helfen. Sie wollen sterben, und sie sterben. In solchen Fällen sind wir machtlos.«
    Clara hob das Kinn und sagte bissig: »Für einen Gott in Weiß ist das eine geradezu abenteuerliche Sichtweise.«
    Der Mann hob die Schultern und lächelte müde. »Vielleicht, ja.« Dann wanderte sein Blick zu Jakob Schelling. »Sie wollten Frau Imhofen sehen?« Als Pablo stumm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher