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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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den anderen, den sogenannten Normalen gefürchtet wurde. Und sie hatte die Freiheit, die in dieser Erkenntnis lag, zu nutzen gewusst, um ihr Überleben zu sichern.
    »Die Schneekönigin«, flüsterte Clara und spürte, wie ihre Stimme sie zu verlassen drohte, als sie langsam die ganze Bedeutung dessen begriff, was Ruth ihr hinterlassen hatte. Agnes Thiele, Ruths Gefängniswärterin mit dem aufgeklebten Lächeln, die Frau ohne Farben, hatte Angst vor Ruth gehabt. Vor ihrer vermeintlichen Verrücktheit, die sich so normal gab, oder der Normalität, die so verrückt wirkte, nur weil sie anders war. Sie hatte das monotone Flüstern gefürchtet, ebenso wie Clara sich davor gefürchtet hatte. Sie hatte es als Bedrohung empfunden. Und Ruth hatte es gespürt. »Dieses Flüstern, dieser Rückzug, kann auch eine Waffe sein«, hatte Pater Roman gemeint. Clara hatte es damals nur defensiv verstanden, als ein Schutzschild, doch es war auch eine Angriffswaffe. Aber das verstand Clara erst in diesem Augenblick.
    »Sie hat recht gehabt«, Clara wusste nicht, ob sie laut redete oder nur in Gedanken sprach. Eva, die junge Pflegerin, mit der sie bei Frau Pronizius gesprochen hatte, hatte recht gehabt: Agnes Thiele hat vor ihrem Tod ein Gedicht aufgesagt. Ruths Gedicht. Ruth war an jenem Sonntagmorgen, bevor sie zu Pablo gegangen war, bei Agnes Thiele gewesen. Sie wollte sich rächen. Sich und Maja. Und es war ihr gelungen. Sie hatte die richtige Waffe gewählt: Die Schneekönigin war an einem Gedicht gestorben.
    Plötzlich verstand Clara auch, was dieser Arzt ihr vorher hatte sagen wollen. Es war kein billiger Spruch, keine Ausrede gewesen, sondern eine Tatsache: Ruth hatte sterben wollen, sterben müssen, weil es für sie keinen Weg mehr zurück gegeben hatte. Der Spalt hatte sich endgültig geschlossen, und nicht einmal das Gedicht konnte ihn wieder öffnen.
    Sie setzte sich auf das leere Bett und weinte. Als sie endlich wieder zu sich kam, war sie allein. Schwerfällig stand sie auf und warf einen letzten Blick auf die roten Buchstaben an der Wand. Ihre Finger glitten sanft darüber, und sie spürte die winzigen Vertiefungen, wo sich der spitze Stift in den Putz gegraben hatte. Ruth hatte ihr ein Geschenk hinterlassen: Ihre ganze Wahrheit. Sie würde das Geschenk gut bewahren.
    Dr. Johansen wartete draußen auf sie und begleitete sie zurück. Sie schwiegen eine ganze Weile, doch dann fragte er: »Konnten Sie damit etwas anfangen?«
    Clara nickte stumm.
    Auf dem Weg zurück in die Intensivstation kam ihnen Pablo entgegen.
    »Ist alles in Ordnung? Wo wollen Sie denn hin?«, fragte ihn Clara besorgt.
    Er nickte. »Ich gehe nur eine rauchen«, sagte er und setzte seinen Weg fort.
    Clara sah ihm nach. Er trug seinen Rucksack auf dem Rücken, und Clara fiel ein, dass er sie, als sie zu Willis Auto gegangen waren, um ins Krankenhaus zu fahren, gebeten hatte, seinen Rucksack aus ihrem Wagen zu holen.
    »Ich habe gern alles bei mir«, hatte er gemeint.
    Ihr war jedoch nicht aufgefallen, dass er ihn auch mit in die Klinik genommen hatte. Er entfernte sich langsam, Schritt für Schritt, und Clara hätte rufen können. Sie hätte ihm nachlaufen können. Ihn aufhalten. Doch sie tat es nicht. Die Worte des Arztes fielen ihr ein: Manchmal sind wir machtlos. »Leb wohl, Pablo«, flüsterte sie.
    Als sie zu Willi zurückkam, hob er den Kopf. »Seid ihr Herrn Schelling nicht begegnet?«, fragte er erstaunt. »Er sagte, er wolle eine rauchen gehen.«
    »Pablo raucht nicht«, sagte Clara, und ihr wurde plötzlich seltsam zumute, sie fühlte sich, als ob sie über den Dingen schwebte, sie gewissermaßen von außen betrachtete. Ihre Finger begannen zu kribbeln, und ihre Beine fühlten sich schwach und leicht an, als berührten sie den Boden nicht mehr.
    »Er raucht nicht? Aber was wollte er dann …? Wir müssen ihn suchen!« Willi sprang auf, doch Clara schüttelte den Kopf.
    »Lass ihn. Er hat keinen Grund mehr hierzubleiben.«
    Gemeinsam gingen sie über den merklich geleerten Parkplatz zurück zum Auto. Wie Clara erwartet hatte, war Pablo nirgends zu sehen. Stattdessen erwartete sie Elise schon sehnsüchtig. Als Clara die Beifahrertür öffnete, sprang ihr die Dogge mit vorwurfsvollem Winseln entgegen. Clara vergrub ihren Kopf in ihrem glatten weichen Fell und kletterte mit ihr zusammen auf den Sitz.
    Willi warf dem Hund, der jetzt überlebensgroß neben ihm thronte, einen zweifelnden Blick zu. »Das geht aber nicht …«, begann er, verstummte dann
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