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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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etwas gesagt.« Er fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über den Bart, und plötzlich schien er nervös. »Sie ist gegangen«, sagte er schließlich.
    »Und was haben Sie gemacht?«
    »Aber das wissen Sie doch!«, gab er ausweichend zurück.
    »Erzählen Sie es mir trotzdem.« Clara spürte, wie eine Veränderung in Jakob Schelling vorging. Die ganze Zeit hatte er so entschlossen gewirkt, reinen Tisch zu machen. Er war offen gewesen, hatte sich ungeschminkt selbst angeklagt, und man hatte das Gefühl gehabt, er habe jeden Widerstand, jeden Schutzmechanismus aufgegeben. Doch jetzt, als sie ihn indirekt nach dem Mord an Johannes Imhofen fragte, wirkte er plötzlich vorsichtig, zog sich zurück, und Clara fragte sich irritiert, was das zu bedeuten hatte.
    Er schwieg eine ganze Weile, und Clara drängte ihn nicht.
    Als sie schon dachte, er würde überhaupt nicht mehr zu reden beginnen, richtete er sich zögernd auf und straffte seine Schultern ein wenig. Er hatte einen kräftig gebauten Rücken, noch immer, wenngleich ohne jede Muskelmasse, er wirkte unter dem schmuddeligen Hemd wie ein breiter, hölzerner Kleiderständer.
    »Ich war so wütend«, begann er schließlich zögernd. »Ich stand da und starrte ihr nach, wie sie ging. So viele Jahre habe ich nicht mehr an all das gedacht, und jetzt, auf einmal kam alles wieder zurück. Ich konnte an nichts anderes als an Johannes Imhofen denken. Was er Ruth angetan hat. Was er uns angetan hat. Immer und immer wieder. Die ganze Zeit. Ich habe etwas getrunken, eine halbe Flasche Schnaps und auch Wein, und plötzlich hatte ich dieses Ding da in der Hand.«
    Er senkte den Kopf, und Clara sah, wie sich seine Kiefer bewegten und sich die Haut über seinen Wangenknochen spannte, in der Anstrengung, die Zähne zusammenzubeißen.
    »Ich bin zu Imhofen hinausgefahren und habe in der Tiefgarage auf ihn gewartet. Irgendwann kam er angefahren, es war schon Abend, und als er ausstieg, habe ich mich von hinten an ihn herangeschlichen und auf ihn eingeschlagen. Immer und immer wieder. Bis er tot war.«
    Er sah sie an. »Er hat es verdient. Das und noch viel mehr.«
    Clara nickte unwillkürlich. Sie konnte nicht anders, als ihm recht zu geben, auch wenn ihr anwaltliches Rechtsverständnis empört aufheulte und sofort die Gegenargumente zurechtlegte: »Selbstjustiz ist immer der falsche Weg, niemand hat das Recht, über das Leben eines anderen Menschen zu richten, blablabla…«
    Sie schob den erhobenen Zeigefinger in ihren Gedanken rüde beiseite. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Sie musste nachdenken. Pablos Schilderung deckte sich genau mit dem Tathergang, wie sie ihn in der Akte gelesen hatte. Sein Blick war offen, kein Ausweichen war mehr zu erkennen. Allerdings auch keine Reue, kein Anzeichen von Abscheu über die Tat, keine Furcht angesichts der Folgen seines Geständnisses. Ein vollkommen reiner Blick, kam es ihr in den Sinn. Ein Blick ohne Schuldbewusstsein. Wie war das so plötzlich möglich? Clara hatte selten jemanden gesehen, bei dem Schuldgefühle so deutlich die Ursache für seinen Untergang waren wie bei diesem Mann. Und jetzt dieser Blick. Kam das daher, dass er sich die Tat hatte von der Seele sprechen können, oder eher davon, dass er das Gefühl hatte, mit diesem Mord etwas gutgemacht, eine alte Schuld beglichen zu haben? Clara wusste es nicht. Und es war im Grunde auch gleichgültig.
    Sie stand auf und reichte Jakob Schelling die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. Ihr Blick fiel auf die Briefe, die noch immer neben ihm lagen.
    Unwillkürlich legte er seine Hand darauf und zuckte dann zurück, als habe er etwas berührt, was ihm nicht zustand.
    Clara lächelte matt. »Sie können sie behalten. Es sind Ihre.« Im Gehen drehte sie sich noch einmal um. »Ich fahre morgen um acht hier los. Vor diesem Lokal. Es wäre schön, wenn Sie mitkämen.«
    Pablo nickte.
     
    Nachdenklich verließ sie die Bar. Elise trottete müde hinter ihr her. Clara ging noch einmal hinunter zum Strand, der vollkommen verlassen dalag. Der angekündigte Sturm war bislang ausgeblieben, doch die Nacht war sternenlos, und hohe Wellen brachen sich draußen vor der Bucht. Der Wind hatte aufgefrischt und riss ihr die Worte von den Lippen, als sie nach Elise rief, die sich, die Nase unermüdlich am Boden, immer weiter entfernte. Clara setzte sich in den Windschatten des umgedrehten Ruderbootes und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, was mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden war.
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