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Brown, Dale - Schattenpilot

Brown, Dale - Schattenpilot

Titel: Brown, Dale - Schattenpilot
Autoren: Dale Brown
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Angriff.
    Die Szene erinnerte an eine Massenschlägerei bei der Fußballweltmeisterschaft oder Unruhen in South Central, aber in Wirklichkeit handelte es sich um eine Sondersitzung der Nationalversammlung der Republik China in Taiwan.
    Der amtierende Präsident der Nationalversammlung schlug mit seinem Holzhammer auf die Tischplatte und versuchte, auf diese Weise wieder Ordnung zu schaffen. Er sah sich nach den Soldaten der Nationalgarde um, die durch das Fenster in der Rückwand des Saals spähten und bereit standen, auf sein Zeichen hin den Saal zu stürmen. Er hörte Glas zersplittern und hätte beinahe auf den Alarmknopf gedrückt; aber er beherrschte sich und beobachtete nervös die lärmenden Politiker. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis wieder einigermaßen Ruhe herrschte, und weitere zehn Minuten vergingen, bevor die Abgeordneten den Mittelgang so weit frei machten, dass Beamte der Staatspolizei Lee Teng-hui, den Präsidenten der Republik China, zum Podium begleiten konnten.
    »Liebe Mitbürger, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, begann Präsident Lee. »Es ist mir ein Vergnügen, das Ergebnis der Ratifizierungsabstimmung bekannt zu geben, die erst vor wenigen Stunden in der Gesetzgebenden Kammer stattgefunden hat. Mit zweihunderteinundsiebzig Jastimmen, dreißig Neinstimmen und drei Enthaltungen wird hiermit Herr Huang Chouming vom Volk der Republik China als Vizepräsident und Ministerpräsident bestätigt. Herr Huang, treten Sie bitte vor.«
    Während erneut Beifall aufbrandete, in den sich jedoch lautstarke Proteste von links mischten, trat der neue Ministerpräsident der Republik China aufs Podium und nahm die grün-goldene Amtsschärpe entgegen. Huang gehörte zu den Spitzenpolitikern der Demokratisch-Progressiven Partei (DPP), und seine Wahl zum zweitwichtigsten Mann der taiwanesischen Regierung war bedeutsam, weil damit erstmals in der kurzen Geschichte des Landes jemand, der nicht aus den Reihen der Kuomintang (KMT) stammte, in dieses hohe Amt gelangt war. Obwohl die Kuomintang den taiwanesischen Regierungsapparat weiterhin unangefochten beherrschte, bedeutete dieser Erfolg der DPP einen bedeutsamen Wechsel nach fast fünfzig Jahren ununterbrochener KMT-Herrschaft.
    Im Saal der Nationalversammlung eskalierten das Geschrei, die Beifallsrufe, der Jubel und die Anschuldigungen plötzlich zu weiteren Tätlichkeiten. Während Leibwächter den Präsidenten und den neuen Vizepräsidenten abschirmten, liefen Abgeordnete die Gänge hinauf und hinunter, standen auf Tischen und schrien sich an, gleichzeitig gerieten sich auf dem Podium mehrere andere wegen der Frage in die Haare, wer als Erster mit dem Präsidenten sprechen dürfte. Die für den Sicherheitsdienst in der Nationalversammlung zuständigen Beamten der Staatspolizei waren in den Saal gekommen und standen jetzt unbeweglich in den äußeren Gängen, trugen ihre langen Schlagstöcke aus Bambusrohr fast unsichtbar an der Seite und hatten die Tränengaskanister sicher in ihren Uniformjacken verstaut. Sie beobachteten das Durcheinander mit ausdruckslosen Gesichtern, während um sie herum erregte Auseinandersetzungen tobten.
    »Meine lieben Mitbürger«, begann Präsident Lee erneut. Aber selbst über die Lautsprecher war seine Stimme kaum zu hören. Er wartete geduldig auf irgendein Anzeichen dafür, dass die Auseinandersetzungen abflauen würden. Dann hörte er, wie nur wenige Schritte von ihm entfernt Stoff zerriss - das Gerangel hatte jetzt auch das Podium erreicht, auf dem die Polizei Mühe hatte, den Präsidenten und den neuen Ministerpräsidenten vor Handgreiflichkeiten zu schützen -, und er beschloss noch etwas länger zu warten. Lee hatte in einem Gürtelhalfter unter seiner Jacke eine Pistole stecken und überlegte, ob er einen Schuss in die Luft abgeben sollte, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber er sagte sich sofort, ein Schuss könnte die ohnehin schon angespannte Situation regelrecht explodieren lassen.
    Die taiwanesische Nationalversammlung bestand aus Mitgliedern, die auf Lebenszeit gewählt waren. Da die meisten von ihnen 1948 vor der kommunistischen Machtergreifung auf dem Festland gewählt worden waren, gab es hier im Saal einige hoch betagte Greise. Aber Lee stellte fest, dass die Alten ebenso wütend stritten und kämpften wie die jüngeren Mitglieder - nur mit weniger Stehvermögen. Der Saal teilte sich in zwei deutlich zu unterscheidende Lager auf, was in der Nationalversammlung normal und üblich war. Die
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