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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
Autoren: Diana L. Paxson
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den Zustand eines Kranken zu messen, und es mit einem Tropfen seines Blutes versiegeln. Dann nehme ich es mit nach Hause und singe darüber; der Heilzauber wirkt dadurch ebenso gut, als wäre der Mensch hier.«
    Um zu heilen oder natürlich um zu schaden… Diese Garnspulen waren auch ein Maß des Vertrauens, das Haedwig genoss. In den Dutzend Jahren, seit sie bei den Myrgingen lebte, hatte sie fast jeden im Haushalt des Königs behandelt. Sie ließ den Blick über die Kisten und Säcke wandern, die sich über dem Alkoven mit ihrer Schlafstatt und überall sonst in der Kammer stapelten, und versuchte sich zu erinnern, wie viele Fäden grauen Garns dort lagerten.
    »Kannst du auch bewirken, dass Großvaters Stimmung sich bessert?«, fragte Oesc unverhofft.
    Die wirbelnde Spindel verharrte. »Hat er dich schon wieder geschlagen?«
    Oesc schüttelte den Kopf. »Fast wünschte ich, er hätte es getan. Er redet wie ein vom Schicksal Verdammter und gibt mir die Schuld daran. Ist es wahr, Haedwig? Ist mein Vater deshalb nie zurückgekehrt, um mich zu holen?«
    Eine Weile musterte sie ihn. Sie hatte geahnt, dass er ihr diese Frage eines Tages stellen würde und wusste wohl, wie bedacht ihre Antwort ausfallen musste, um das Geflecht aus Schicksal und Wille nicht zu verändern.
    »Du bist vom Schicksal gezeichnet; dasselbe gilt für Eadguth und alle anderen Menschen, umso mehr, wenn sie von Göttern abstammen, also Kinder von Königen sind. Eadguths Linie reicht zurück bis Ing, dem Sohn des Mannus, die Familie deines Vaters hingegen entspringt Woden selbst. Als du geboren wurdest, habe ich die Runen geworfen und deinem Großvater erklärt, er müsse dich in die Arme nehmen und dir einen Namen geben.« Sie spulte mehr Garn vom Kunkel und drehte die Spindel weiter.
    Oesc nickte. Das wusste er vom Gerede der Mägde, die er manchmal belauschte. Solange das Oberhaupt der Familie das Kind nicht anerkannte, besaß es kein rechtmäßiges Dasein.
    Haedwigs Kehle schmerzte vor Mitleid mit dem Knaben, den sie als Säugling von der Seite seiner sterbenden Mutter genommen hatte, einerseits, weil ihr Gott sie dazu anhieß, andererseits, weil sie schon damals die verborgene Macht in ihm spürte. Sie hatte es tun müssen.
    »Ich sagte ihm damals, du wärst die Hoffnung dieses Hauses, und seine Linie, nicht jene Octhas, würde aussterben, wenn er dich den Wölfen überließe. Und dennoch sehe ich dich nicht hier auf Eadguths Thron sitzen. Du wirst ein Königreich haben, doch es liegt anderswo. Die Rune, die deinen Weg bestimmt, ist Sigel, die Sonnenstraße, die zum Sieg führt.«
    »Weiß mein Vater von mir? «, hakte Oesc nach.
    »Ihm wurde eine Nachricht gesandt, doch ich vermag nicht zu sagen, ob sie ihn je erreicht hat. Er kämpft in Britannien. Vielleicht meinte er, du wärst hier sicherer. Und bedenke, der fahrende Spielmann, der letztes Jahr beim Julfest sang, hat uns erzählt, dass Uther, der britische König, ihn gefangen hält.«
    »Womöglich ist er bereits tot…«, flüsterte der Knabe.
    Haedwig schüttelte den Kopf. »Ich habe euch beide zusammen gesehen. Eure Zeit wird kommen.«
    Seufzend ließ Oesc die Decke von seinen Schultern gleiten. Seine feuchten Kleider begannen in der Hitze des Feuers zu dampfen.
    »Also, wenn es nicht mein Fehler ist, warum gibt der König dann mir die Schuld?«
    »Geh nicht zu streng mit ihm ins Gericht. Er ist ein alter Mann. Seit sein eigener Großvater von Offa dem Angeln am Ufer des Fifeldor getötet wurde, haben die Dinge sich für die Myrginge schlecht entwickelt. Nun muss er mit ansehen, wie Überschwemmungen und Stürme sein Land verschlingen. Wenn er zu seinen Ahnen reist, werden die Barden nicht singen, dass die Ernten unter seiner Herrschaft ergiebig waren, und niemand wird Gaben an sein Grab legen. Von allen Schicksalen ist ein solches die schwerste Last für einen König.«
    Als Haedwig weitere Wolle aufspulte, riss das Garn plötzlich, und die Spindel rollte über den Boden zu dem mit Runen beschnitzten Speer, der an der Wand lehnte. Die Klinge war von einem Tuch verhüllt.
    Ha, alter Mann!, dachte sie. Ist die Zeit gekommen, da du zu handeln beginnst? Einen Atemzug lang vermeinte sie einen leichten Schimmer um den Speer spielen zu sehen. Die Waffe war ihr vor einem Dutzend Jahren anvertraut worden, zur selben Zeit, als ihre Visionen sie anwiesen, in die Dienste des Königs der Myrginge zu treten.
    Oesc bückte sich, um die Spindel aufzuheben. Als er sie behutsam neben ihren Stuhl
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