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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
Autoren: Diana L. Paxson
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die zitterte.
    »Mein Wille ist, was sein wird, doch es liegt nicht an mir zu wählen, welchen Verlauf die Zukunft nimmt. Das bleibt dir selbst überlassen – und dem Knaben.«
    Unvermittelt wurde Oesc bewusst, dass er der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war; so musste sich eine Maus fühlen, die zwischen den Klauen eines Wolfes gefangen war. Er presste die Augen noch fester zu. Einen Augenblick dauerte die Spannung noch an, dann löste sie sich, und er vernahm leises Lachen.
    »Ich zwinge dich nicht« , erklang das innere Flüstern, »aber man wird dir bald eine Wahl auferlegen, mein Sohn, und dann wirst du dich entscheiden müssen.«
    »Ich habe Euch erwählt, Höchster, als ich noch jung war«, meldete Haedwig sich zu Wort.
    »So ist es, und ich war nie fern von dir.«
    Falls noch mehr gesprochen wurde, war es nicht für Oescs Ohren bestimmt. Er sank zu Füßen der Frau nieder, und erst später, nachdem der Gott und sein Gefolge verschwunden waren, erkannte er, dass sein Gesicht nass war, nicht von Regen, sondern von Tränen.
    Der Wald wirkte außergewöhnlich still. Oesc erhob sich und wischte sich über die Augen. Dann erstarrte er, als er abermals den Klang von Hufen und Hörnern vernahm.
    Doch dies war keine Geisterjagd. Nun erkannte er den Unterschied. Es waren sterbliche Pferde, deren Hufe er auf den feuchten Holzstämmen klappern hörte, und sterbliche Lungen, deren Atemstöße jene klagenden Hornlaute heraufbeschworen.
    »Da sind Reiter, Haedwig! Reiter auf dem Pfad!«, rief er aus. »Beeil dich, wir müssen zurück zur Halle.«
    Sie verhüllte die Speerspitze wieder, und er sah, dass ihr Antlitz noch vor freudiger Erinnerung leuchtete. Als sie aber die Aufmerksamkeit wieder der Welt der Menschen zuwandte, vertieften sich die Furchen in ihrer Haut, und sie wirkte mit einem Mal wieder sterblich.
    »Also hat es begonnen…«
    Oesc spähte durch die Tür in den großen Saal, der noch an jenem Vormittag so riesig und leer gewirkt hatte. Nun waren Männer dort eingetroffen in abgetragenen Rüstungen und zerschlissenen Prunkgewändern, alle über und über mit Schlamm bespritzt. Mägde und Knechte umsorgten sie, trugen nasse Mäntel fort und brachten Becher voll warmem Bier.
    »Möge Frey Euch segnen«, sprach der Anführer, der sich von Aebbe, der verwitweten Schwester des Königs, ein Horn voll Met reichen ließ. So lange Oesc denken konnte, führte sie den Haushalt der Halle. Der Mann musste einst gut ausgesehen haben, dachte der Knabe, nun aber hing ihm ein Augenlid herab, und eine lange Narbe verunzierte die linke Hälfte seines Gesichts.
    »Aber wo ist Eure Nichte, Aebbe? Sollte nicht sie es sein, die uns willkommen heißt?«
    »Es gibt keine andere Herrin in dieser Halle«, entgegnete die Frau und wich einen Schritt zurück. »Und welches dämonische Wesen hat Euch meinen Namen verraten?«
    Der Fremde wirkte überrascht. »Also hat Hildeguth wieder geheiratet? Vermutlich glaubte sie mich tot. Ich selbst habe mich in den letzten Jahren ein paar Mal tot geglaubt!« Seine Hand fuhr über die Narbe. »Habe ich mich so sehr verändert, Aebbe, dass nicht einmal Ihr mich erkennt?«
    »Es ist meine Tochter, die tot ist«, ertönte eine harsche Stimme vom gegenüberliegenden Ende des Saales, »getötet von dem Samen, den du in ihren Leib gepflanzt hast. Und hättest du nicht bereits Anspruch auf Gastrecht, hätte ich dich von meiner Tür verjagt!« Auf seinen Stock gestützt, humpelte Eadguth zum Thron und ließ sich darauf nieder.
    Oesc starrte vom einen zum anderen, spürte jeden Herzschlag in der Brust und ohne recht zu glauben, begriff er, wer der Neuankömmling sein musste.
    Octha, Sohn des Hengest… sein Vater!
    Octha richtete sich auf; sein Gesicht wurde starr. »Und das Kind?«, fragte er mit leiser Stimme. »Ist auch das Kind gestorben?«
    »Soll ich dir sagen, es sei in ihrem Bauch gestorben?«, spie Eadguth ihm entgegen. »Oder dass ich es in der Heide ausgesetzt habe den Wölfen zum Fraß?«
    »Ihr sollt ihm die Wahrheit sagen, alter Mann«, forderte Haedwig ihn auf, umfasste Oescs Schultern und schob ihn vor sich her ins Licht des Feuers. »Obschon es Euch schmerzlichen Kummer bereitet hat, Ihr habt seinen Sohn aufgezogen!«
    Eine Weile blieb der Blick des Kriegers noch mit jenem des Königs verhaftet. Dann drehte Octha sich um; seine Miene veränderte sich, als er den Knaben betrachtete.
    »Komm her.«
    Mit Füßen, die ihm nicht zu gehören schienen, trat Oesc vor. Octha kniete sich nieder und
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