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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
Autoren: Diana L. Paxson
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heulte durch die Dachsparren und rüttelte an den Säulen. Oesc, der sich an die Pfosten des Throns seines Großvaters lehnte, spürte, wie das Holz unter seiner Hand zitterte. Vielleicht ist dies der Sturm, der uns zerstört, dachte er und schauderte, teils vor Aufregung, teils vor Furcht. Der Wind wird die Burg einstürzen lassen, und dann wird das Meer sich über die Felder ergießen und uns hinwegspülen…
    Um diese Jahreszeit, wenn die Kräfte des Winters vergebens die letzten Kämpfe gegen den Vormarsch des Frühlings austrugen, waren Stürme durchaus üblich, doch Oesc konnte sich nicht entsinnen, in seinen neun Erdenjahren je einen solch mächtigen Wind erlebt zu haben. Seit Generationen hielten die Myrginge dieses Land und klammerten sich stur an ihre Heime, während andere Stämme fortzogen. Wenn die Männer um die Feuer saßen, erzählten sie von milden Wintern und ergiebigen Ernten, aber seit Oescs Geburt schien das Wetter schlecht zu sein, und dieses Jahr war das Schlimmste von allen.
    Ein kalter Windstoß peitschte die Flammen in dem langen Kamin hoch, als die Tür aufschwang. Mehrere völlig durchnässte Gestalten drängten herein und warfen sie hinter sich zu, sie stampften mit den Füßen und schüttelten sich wie nasse Hunde. Neugierig lauschte Oesc, wie sie fluchten, und er ahmte die verbotenen Worte mit leiser Zunge nach.
    »Die Jötuns pissen einen Sturm auf uns herab, verflucht sollen sie sein!«, rief Aethelhere aus und warf seinen Mantel einem der Leibeigenen zu. »Ich sage euch, der Regen prasselt seitwärts herein, geradewegs vom Meer!«
    »Noch dazu kalt wie die Milch aus Hellas Titten!«, pflichtete ihm Byrhtwold, der ihm folgte, bei.
    Die Stiefel der Männer verursachten schmatzende Laute, und aus den nassen Haaren troff ihnen das Wasser über die Hälse.
    »Was ist mit der Tide?«
    Oesc schaute zu seinem Großvater auf, der seit Mittag reglos dagesessen und dem Wind gelauscht hatte.
    »Kurz nach Sonnenuntergang wird die Flut kommen, Herr«, antwortete Aethelhere. »Sofern der Wind bis dahin nicht abflaut.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und schüttelte den Kopf.
    Mehr brauchte er nicht zu sagen. Um diese Jahreszeit vermochte der Wind, wenn er seine Kraft mit dem Schwell der Gezeit vereinte, den Fifeldor in seinem Lauf umzukehren. Die Sturmfluten und der anschwellende Fluss dazwischen würden die frisch bestellten Felder überfluten.
    »Die Nornen haben uns ein übles Schicksal zugedacht…«, murmelte Eadguth. »Griffen Feinde uns an, würde ich mit Waffen gegen sie angehen, so alt ich auch sein mag, aber niemand vermag der See Einhalt zu gebieten.«
    Abermals schaute Oesc zu seinem Großvater auf. Eadguth hatte stets wie ein Abbild der Ewigkeit gewirkt. Nun aber sah der Knabe eingesunkene Augen und eine tief zerfurchte Stirn, die durchscheinende Haut an den hageren Händen, und ihm wurde klar, dass der Myrging-König alt war, nicht so wie ein hoch aufragender, stehender Stein, dessen Oberfläche von den Jahren verwittert ist, sondern wie eine alte Eiche, die von innen verfault, bis sie keine Kraft mehr hat, dem Sturm zu widerstehen. Dieser Wind hatte bereits einigen der Bäume am Hang der grasbewachsenen Kuppe, auf der sich die königliche Halle erhob, die Äste geknickt. Was würde er dem greisen Mann antun? Oesc kroch dichter an Eadguth und schlang die Arme um dessen Bein, als könnte ihn seine jugendliche Kraft im Boden verankern.
    Der düstere Blick des Greises wanderte hinab; seine Lippen zuckten.
    »Ist es ein Fluch deines Geschlechts, Knabe, der dich dazu verdammt, nirgends Ruhe zu finden? Ich bin nur froh, dass deine Mutter diesen Tag nicht mehr erleben muss.«
    Oesc ließ seinen Großvater los und starrte ins Leere. Er erinnerte sich nicht an seine Mutter, eine hellhaarige Frau mit Augen von so üppigem Braun wie Baumrinde in der Sonne, wie die Menschen erzählten; seine Mutter, die mit einem Abenteurer des Volkes der Angeln namens Octha fortgezogen war und später mit einem Kind im Bauch zurückgeschlichen kam, nachdem ihr Gemahl übers Meer gereist war, um sich nach Britannien zu seinem Vater zu begeben. Eadguths Sohn war in einer Schlacht gefallen, und seine Tochter war sein Ein und Alles gewesen.
    »Oder bist du es, der das Unheil heraufbeschwört?« Der Blick des Königs wurde stechend. »Fluch deiner Mutter im Kindbett und nun Fluch meines Landes?«
    Vorsichtig wich Oesc zurück. Er kannte Eadguths finstere Launen nur allzu gut. Als er noch kleiner gewesen war,
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