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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
Autoren: Diana L. Paxson
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hatte er versucht, sich zu entschuldigen, wenngleich er nicht wusste, wofür, und war nur umso heftiger verprügelt worden. Die Frauen behaupteten, er sähe aus wie sein Vater. Vielleicht war das der Grund. Nun aber erkannte er, dass der greise Mann zu erschöpft war, um ihn zu schlagen.
    Byrhtwold ließ den Blick von seinem König zu dem Knaben wandern. Dabei schlich sich Mitleid in seine Augen, und er deutete auf die Tür. Der alte Krieger würde nie die Stimme gegen seinen Herrn erheben, dennoch hatte er Oesc stets größtmögliche Freundlichkeit entgegengebracht. Dankbar nickte der Knabe, dann huschte er in die Schatten hinter den Hallenpfeilern und schlich den Gang zwischen ihnen und den Schlafstätten entlang, bis er zur Tür gelangte.
    Sein Großvater, König der Myrginge und Herrscher ihres Landes, galt in seiner kleinen Welt als oberste Macht, aber Eadguth hatte sich stets als wankelmütiger Beschützer erwiesen. Trotz allem war er nicht die einzige Macht. Oesc schlüpfte zur Tür hinaus, wobei er sich anstrengen musste, um sie gegen den Wind offen zu halten; dann begab er sich auf die Suche nach jenem Menschen, der ihn noch nie verraten hatte.
     
    Nach wenigen Schritten schon war er nass bis auf die Haut. Der Sturm fegte von Norden herein, kalt wie das Meer, von dem er kam, und peitschte Regen über das Land. Bei jeder Bö schauderte die mächtige Eiche jenseits der Palisade heftig; der Boden war mit Laub und Zweigen übersät. Beinahe vornüber gebeugt stapfte Oesc durch die Pfützen und hielt den Arm schützend vor die Augen. Trotzdem wirbelte ihn der Wind gegen den Spinnereischuppen und beförderte ihn neben der Lagerhütte bäuchlings zu Boden, ehe er in den Windschatten der Holzpalisade gelangte und darin seinem Ziel entgegenkroch.
    Haedwigs Hütte war teilweise durch den Wall geschützt; der Pferdeschädel am Pfosten vor dem Eingang klapperte im Wind, die darunter angebrachten Rabenfedern klatschten feucht hin und her, doch wenigstens konnte Oesc hier aufrecht stehen.
    Er holte tief Luft und wischte sich über die Augen, ehe er an die Tür klopfte.
    Eine lange Weile schien zu verstreichen, ehe eine Antwort erfolgte. Gewiss, dachte er, würde sie an einem solchen Tag drinnen bleiben, obwohl Zauberkundige nicht wie andere Menschen waren. Und wenn ihre Magie es erforderte, mochte sogar eine Frau, die als Wicce, als Hexe, galt, dem Sturm trotzen.
     
    Das Gewicht der Spindel rollte den Faden aus; sie drehte sich immerfort wie der Kreislauf der Jahreszeiten, das Leben der Menschheit. Haedwig, von der Bewegung in eine Art Dämmerzustand versetzt, vermochte zunächst nicht das Klopfen über das Brausen des Sturmes hinweg zu vernehmen. Es war das Aufflammen eines Gefühls, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Gleich darauf spürte sie einen Schmerz – einen Schmerz der Seele, keinen des Körpers –, und sie erkannte, wie man den durchdringenden Duft von zerstampften Kiefernnadeln im Wind wahrnimmt, dass Oesc vor der Tür wartete. Sie fädelte das Garn durch das Öhr im Schaft der Spindel, und ehe es noch einmal klopfte, öffnete sie die Tür.
    Als der Junge sich anschickte, einzutreten, versetzte ihm der Wind einen plötzlichen Stoß, der ihn den restlichen Weg hineinbeförderte. Er fiel auf die Knie und blinzelte in den dunklen Raum.
    »Kind, du bist völlig durchnässt! Zieh die Schuhe aus, du hinterlässt ja bereits Pfützen auf dem Boden.«
    Die Worte klangen derb, ihr Tonfall jedoch nicht. Haedwig war Oescs Amme gewesen und wusste, dass er ihr Schelten gewöhnt war.
    Das Feuer loderte auf in der Zugluft und warf seinen Schein auf einen Knaben, dessen Hände und Füße zu groß für seinen zarten Leib wirkten und dessen helles Haar der Regen dunkel an den Kopf geklatscht hatte. Haedwig griff nach einer Decke und legte sie dem Jungen um. Oesc sank auf den dreibeinigen Stuhl neben dem Feuer und rümpfte die Nase, als er die feuchte Wolle roch. Die Wärme des Feuers begann seine Kleider zu trocknen.
    Haedwig ließ sich wieder an der Spindel nieder und spann weiter, wobei sie leise summte und ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Oesc musterte sie neugierig, da er wusste, dass die Spindel einer Wicce manchmal mehr als schlichtes Garn hervorbrachte.
    »Das ist schwarze Wolle und weiße«, beantwortete Haedwig seine unausgesprochene Frage, »zusammengezwirbelt. Verwobene Gegensätze bringen die Magie ins Gleichgewicht.«
    »Wofür brauchst du sie?«
    »Überwiegend zum Heilen. Ich kann dieses Garn verwenden, um
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