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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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vereinend. Und so, als könne er selbst seinen steilen Aufstieg noch gar nicht fassen, als sei er in ein Märchen geraten und müsse sich in den Arm zwicken, um sich zu vergegenwärtigen, dass er nicht träumte. Einer, der um die Zeitenwende weiß. »Ich bin Mitglied der letzten Generation von Sowjetmenschen, von denen, die im Zeichen der UdSSR geboren und sozialisiert wurden«, sagt er nachdenklich. »Ich war Mitte zwanzig, als die Sowjetunion unterging, schon mein ältester Sohn kennt diese Zeiten nur mehr von Geschichten, die wir ihm erzählen, von Eindrücken, die wir ihm vermitteln.« Wir unterhalten uns dann über die gerade überstandene Rubel-Krise, die Chancen der Erdölförderung in Sibirien und das »Corporate Governance«, das er seinen Worten nach bei seinem Jukos-Konzern eingeführt hat. »Der Westen wird meine
Firma bald beneiden«, sagt er zum Abschied. Und im Hinausgehen gibt er noch eine Empfehlung: »Kaufen Sie Jukos-Aktien. Glauben Sie mir, es wird sich für Sie auszahlen.«
    Das zweite Mal im Frühsommer 2002, als ich für den »Spiegel« ein Porträt über den »reichsten Mann Russlands« vorbereite. Wir sehen uns im Moskauer Jukos-Büro, einem Raum, an dessen Wänden nun neben einer Russlandkarte mit den markierten Standorten der Erdöl- und Erdgas-Anlagen des Konzerns auch moderne Kunstwerke hängen und der mit einer Ledergarnitur, Glastischen und Mahagoni-Tisch erkennbar auf internationale Repräsentation getrimmt worden ist.
    Was haben sie ihm nicht damals schon alles nachgesagt, seine geschäftlichen Konkurrenten, seine kommunistischen Feinde und natürlich »diese Giftzwerge von der Journaille«, die er ganz selten nah an sich heranlässt: Er sei ein Mafia-Typ, ein Rohstoffdieb im großen Stil, ein Ausbeuter seines Volkes. Mehrere tausend Fundstellen mit Informationen zu seinem Namen gebe es im Internet, sagt Russlands vielleicht mächtigster Wirtschaftsboss. Fast alles Schund, seiner Meinung nach.
    Bleibt die Frage, wie der Tycoon seine Unternehmerrolle in der postkommunistischen Wirtschaft selbst sieht? Chodorkowski, im ganzen Land nur MBC genannt, stößt einen tiefen Seufzer aus. Er hebt die Hände wie zum Schutz, ganz Unschuldslamm im Raubtiergehege – und überrascht mit einem Geständnis. »Hier herrschte in den Übergangszeiten nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems das Gesetz des Dschungels. Keiner wusste genau, welche Vorschriften noch galten – ich nutzte das aus, so wie andere Unternehmungslustige auch.«

    Er gönnt sich eine kleine Verschnaufpause in Sachen Ehrlichkeit. Zögert, nimmt einen Schluck Mineralwasser. »Waren wir deshalb Räuberbarone? Vielleicht. In dem Sinne, wie die großen amerikanischen Firmengründer Ende des 19. Jahrhunderts Robber Barons waren.« Der Russe nennt die Rockefellers als sein Vorbild, allen voran John D., den Selfmademan und Gründervater der Ölindustrie. »Er war am Anfang seiner Karriere nicht der absolute Saubermann. Sein Sohn galt schon als respektabler, die Generation der Enkel dann über alle Zweifel erhaben. Hundert Jahre und drei Generationen dauerte dieser Prozess vom etwas dubiosen Beginn bis zur allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung – als ich kürzlich in Harvard eine Rede hielt, hat mir ein Professor versichert, ich hätte dasselbe allein und in wenigen Jahren geschafft.«
    Als Unternehmer im Rampenlicht muss er auch repräsentieren, so schwer ihm das fällt. Und deshalb trägt Chodorkowski nicht mehr seine geliebten speckigen Jeans und den alten Rollkragenpullover bei der Arbeit. Er hat sich durchstylen lassen: der dunkle Anzug Maßarbeit, die Krawatte von Ermenegildo Zegna, die randlose Brille Porsche-Design. MBC ist immer bereit für einen Auftritt bei CNN. Sogar das stets kontrollierte Lächeln in dem jungenhaften Gesicht wirkt wie vom Designer verordnet. Eingefroren, bei Bedarf aufzutauen.
    Jedes Wort, jede Geste macht es deutlich: Die Suche nach Respekt für seine Leistung und die Respektabilität des Jukos-Konzerns sind sein Antrieb, seine Droge. Mal springt MBC auf, um an der Landkarte in seinem Büro mit einer weit ausladenden Handbewegung zu zeigen, wo die Firma überall Erdöl und Erdgas fördert. An der Wolga bei Samara
etwa, aber vor allem in den sibirischen Weiten, am Flusslauf des Ob. Mal schaut er, ganz Wall-Street-Manager, in seinem elektronischen Notizbuch nach dem Börsenkurs der Unternehmenspapiere.
    Jukos gilt schon damals als die Erfolgsfirma im boomenden Markt der Energie-Anbieter, als »erste
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