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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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sein Urteil schon gefällt hat: an den mächtigsten Mann im Land, an seinen großen Widersacher. An Ministerpräsident Wladimir Putin.
    Die Anklage umfasst 3487 Seiten, das Urteil kommt mit vergleichsweise schlanken 689 Seiten aus. Die Verteidigung hat im Lauf des Prozesses Entlastungszeugen vorführen können, die alle Anklagepunkte ad absurdum führten.
Der frühere Wirtschaftsminister German Gref und der Ex-Vizepremier Viktor Christenko bestätigten übereinstimmend, sie hielten es für ausgeschlossen, dass Chodorkowski gemeinsam mit seinem Mitangeklagten Platon Lebedew 350 Millionen Tonnen Öl gestohlen haben könnte. Das wäre ihnen – damals in Regierungsverantwortung – mit Sicherheit aufgefallen. Geradezu kafkaesk mutet das Verfahren an, die Vorwürfe sind nach Ansicht aller sachkundigen ausländischen Prozessbeobachter an den Haaren herbeigezogen, und auch Politiker von Angela Merkel bis Barack Obama schließen sich dieser Meinung an. Es nützt alles nichts. Am 27. Dezember 2010 verkündet der Richter den Schuldspruch, drei Tage später das Strafmaß. Es übertrifft in seiner Härte die Erwartungen der meisten Prozessbeobachter: 14 Jahre Freiheitsentzug. Das zweite Urteil hebt das erste auf; unter Berücksichtigung der noch nicht abgebüßten Reststrafe bedeutet das für Chodorkowski noch über sechs Jahre Haft. Gefasst und mit seinem üblichen ironischen Lächeln auf den Lippen akzeptiert Chodorkowski den Schuldspruch zum »Gulag light«, wie er den Strafvollzug im Putin-Reich ironisch nennt. Kommt es zu keiner Begnadigung, kann er erst 2017 seine Freiheit wiedererlangen.
    Aber selbst dann wird Chodorkowski noch kein Greis sein, sondern gerade erst 54 – eigentlich im besten Alter für eine Karriere in der Politik oder Wirtschaft. Er hat in der Haft mit seinen Aufzeichnungen begonnen. Er reflektiert darin nicht nur seine eigene Vergangenheit, sondern schreibt auch auf, welchen politischen Weg seine Heimat gehen könnte; er diskutiert diese Gedanken in Briefwechseln mit einigen der interessantesten russischen Schriftsteller
und Philosophen – und lässt dabei auch eigene Lernprozesse erkennen. Sie sind in diesem Buch dokumentiert mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Der Autorin Ljudmila Ulitzkaja verrät er vieles über seinen Werdegang. Dem Essayisten Boris Akunin erzählt er von den Bedingungen seiner Gefangenschaft, in seinen Essays analysiert er das Justizsystem und die Chancen der Demokratisierung in seiner Heimat. Und Chodorkowski verrät auch Ambitionen. Er lässt zwischen den Zeilen der hier abgedruckten Interviews, Essays und Briefe deutlich erkennen, dass er in einem veränderten Russland durchaus auch eine wichtige Rolle für sich selbst sieht.
     
    Vom Knast in den Kreml – ist so etwas auch nur im Ansatz denkbar? Und was genau will Chodorkowski politisch und ökonomisch, wie glaubt er es erreichen zu können? Ist er wirklich die strahlende Ikone der Freiheit, der Märtyrer, zu dem ihn seine Bewunderer machen oder doch eher ein reichlich spät geläuterter Raubtierkapitalist, womöglich zum Teil sogar zu Recht von der Staatsmacht abgestraft?
    Drei Leben jedenfalls scheint dieser Mann schon geführt zu haben. Das erste, als er in den spätsowjetischen Zeiten jede Gesetzeslücke skrupellos ausnützt, zum Milliardär aufsteigt und sich als Lobbyisten Abgeordnete der Staatsduma hält; das zweite, als er sich zum modernen Konzernchef und Wohltäter seiner Belegschaft entwickelt, sich mutig, geradezu tollkühn gegen die Korruption an der Staatsspitze auflehnt; das dritte, als er sich unter schwierigen Haftbedingungen zum nachdenklichen, durch nichts und niemanden zu brechenden Idealisten entwickelt. Kann man diese
drei Leben mit ihren so offensichtlichen und eklatanten Widersprüchen voneinander trennen? Den Rücksichtslosen vom Cleveren und den Cleveren dann vom Gutherzigen?
    Wer ist dieser Michail Borissowitsch Chodorkowski, dämonisiert von den einen, verklärt von den anderen?
     
    Ich habe Chodorkowski vor seinem Moskauer Prozess dreimal getroffen, in durchaus unterschiedlichen Lebensphasen.
    Das erste Mal Ende 1999, als ich für eine Geschichte über Russlands Wirtschaft recherchiere. Es ist ein kurzes Kennenlerntreffen in seinem Büro.
    Chodorkowski wirkt auf mich überraschend jugendlich, noch jünger als seine damaligen 36 Jahre, begeisterungsfähig, hemdsärmelig, gelegentlich ein wenig ruppig – eine Mischung aus Musterschüler und Rabauke, schon damals Unvereinbares miteinander
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