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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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den Fluren der Regierungsbüros der ewigsozialistische Geruch von Bohnerwachs und billiger Seifenlauge; auf den Straßen fast nur zusammenbrechende Ladas. Die Sowjetunion in den Zeiten der Stagnation, ein Land wie gelähmt.
Im Kreml aber herrscht an diesem Tag fieberhafte Aktivität. Generalsekretär Konstantin Tschernenko ist gestorben – nach dem Ableben Breschnews und Andropows nun schon der dritte Tod eines greisen KP-Chefs innerhalb von zweieinhalb Jahren. Der Kreml-Chefarzt benachrichtigt Michail Gorbatschow, das jüngste Mitglied des Politbüros. Innerhalb weniger Stunden geschieht Erstaunliches: Das mächtigste Gremium der UdSSR einigt sich auf den 54-Jährigen als neuen Generalsekretär. Welche revolutionären Folgen diese Wahl für die Welt haben wird, kann damals keiner auch nur erahnen. Schon gleich gar nicht einer der jungen Männer, die zu den Wirtschaftsführern eines neuen Russland aufsteigen sollten: Sie sind damals fern der Macht, und sie haben noch keinen Kontakt zueinander. Was sie verbindet, ist ihr Ehrgeiz, sich Freiräume zu verschaffen innerhalb des zerfallenden Sowjetsystems – zur Not auch ein wenig außerhalb.
    Wladimir Gussinski, bei Gorbatschows Wahl 31 Jahre alt, fährt damals eines der nicht lizenzierten Taxis, die zwischen Innenstadt und Flughafen pendeln. Er hat von einer Karriere am Theater geträumt, ist aber als Regisseur nie recht zum Zug gekommen. Ein von Zorn getriebener, begabter Außenseiter, ausgestattet mit einem ausgeprägten Geschäftssinn.
    Boris Beresowski, damals 39, hofft am Institut für Komplexe Steuerungssysteme auf ein eigenes Laboratorium; der Mathematiker beschäftigt sich mit Studien zur Entscheidungsfindung, interessiert sich aber mehr für die Praxis als für die Theorie. Ein Hansdampf in allen Gassen. Ein meisterlicher Organisator, dem nur das Instrument fehlt, auf dem er spielen kann.

    Auch Michail Chodorkowski ist ein Suchender, politisch vielleicht der Angepassteste im Kreis der späteren Oligarchen. Mit 21 fehlt ihm beim Gorbatschow-Antritt noch ein Jahr bis zum Examen als Chemie-Technologe am prestigereichen Mendelejew-Institut. Er ist das einzige Kind einer Arbeiterfamilie, ein brillanter Student, Mitglied beim KP-Jugendverband Komsomol. Schon als Sechsjähriger, als Alterskameraden Lokomotive fahren oder als Astronauten durchs All jagen wollen, hat er seinen Eltern seinen eher konventionellen Berufswunsch verraten, und bei dem bleibt er auch: »Ich möchte Werksleiter werden.«
    Sacharow oder andere Dissidenten sagen ihm auch noch wenig, statt verbotener Samisdat-Literatur liest der Jungkommunist mit Begeisterung Staatstragendes, etwa Nikolai Ostrowskis Heldenepos »Wie der Stahl gehärtet wurde« aus der Zeit des Aufbaus der Sowjetunion: »Ich glaubte damals wirklich, so aufopferungsvoll müsse man leben – und rücksichtslos. Wenn es sein müsste, eben auch dem Gegner den Hals brechen.« Skrupel sind dem Durchsetzungskräftigen fremd, der sich früh in asiatischen Kampfsportarten stählt. Die lange Narbe am linken Arm stamme von einer Messerstecherei im Moskauer Untergrund, erzählt einer seiner alten Bekannten. Er mag das bei unserem Gespräch nicht bestätigen.
    Als Student mit dem besten Examen darf Chodorkowski sich eine Arbeitsstelle aussuchen. Er will in eine Rüstungsfirma. Das wird von den Behörden aus »Sicherheitsgründen« verweigert – in Chodorkowskis Pass steht unter Nummer fünf »Jude«, und das heißt für die Bürokraten: möglicher Risikofaktor. »Dabei waren wir zu Hause gar nicht religiös, schon gar nicht politisch subversiv«, sagt er.
Die Zurückweisung wird zum Wendepunkt. Was ihm die Obrigkeit nicht zugestehen will, muss er sich eben nehmen. Als Kassierer der Komsomol-Beiträge pflegt Chodorkowski seine Verbindungen zu KP-Größen. Er gründet ein Jugendcafé, das freilich kein Erfolg wird: Es liegt ungünstig auf dem Gelände der Uni, dem die Studenten in ihrer Freizeit so schnell wie möglich entfliehen wollen. Er lernt seine erste Lektion von Angebot und Nachfrage – und glaubt Ende der Achtziger doch noch immer, dass der Sozialismus das überlegene Wirtschaftssystem sei, wenn man es nur ein wenig zurechtbiege.
    Das Erstaunliche: Die KP lässt ihn und die anderen Partei-Kids Kapitalismus spielen. Ausgerechnet den Komsomol hat der frühere Komsomol-Aktivist Gorbatschow für Wirtschaftsexperimente freigegeben. Der Verband der Parteijugend wird so etwas wie eine marktwirtschaftliche Oase in der Wüste der
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