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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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betonen, der Fall Jukos sei längst nicht abgeschlossen.
    Weil sie demonstrieren wollen: Sie stehen über dem Gesetz, sie erreichen immer das, was sie vorhaben. Bisher haben sie das Gegenteil erreicht: Sie haben aus gewöhnlichen Menschen ein Symbol des Widerstands gegen die Willkür gemacht. Jetzt brauchen sie einen Schuldspruch, um nicht selbst zu »Sündenböcken« zu werden.
    Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, dass das Gericht diesem Druck ehrenhaft standhält. Wir wissen alle, wie und über wen er ausgeübt wird.
    Ich möchte, dass eine unabhängige Justiz zur Realität wird und zum Alltag meines Landes gehört, dass die Worte vom »gerechtesten Gericht der Welt«, die in der Sowjetzeit geprägt wurden, aufhören, ironisch zu klingen. Dass wir unseren Kindern und Enkeln nicht die gefährlichen Symbole des totalitären Systems als Erbe hinterlassen.
    Euer Ehren, mir ist klar, Sie haben es außerordentlich schwer, vielleicht haben Sie sogar Angst. Ich wünsche Ihnen Mut.

Wer ist Michail Chodorkowski?
Ein Essay von Erich Follath
    Erich Follath, Jahrgang 1949, ist promovierter Politologe und Diplomatischer Korrespondent des »Spiegel«. Er hat in dem Hamburger Nachrichtenmagazin zahlreiche Titelgeschichten über Russland, China und den Nahen Osten veröffentlicht. Follath ist Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher (u.a. »Die letzten Diktatoren«, »Die Kinder der Killing Fields«).
     
    Ein fast mitleidiges Lächeln auf den Lippen, die Stimme leise und fest, fordernd und verzeihend zugleich, die Haltung betont aufrecht, als wolle da jemand mit jeder Bewegung beweisen: Mich bricht niemand. Michail Borissowitsch Chodorkowski ist kein brillianter Romancier, kein mitreißender Revolutionär, auch kein Rhetoriker von Gnaden. Und doch erinnert das Schlusswort, das er während dieses bitterkalten Novembertags 2010 im Gitterkäfig des Moskauer Gerichtssaals hält, an zwei andere berühmte historische Reden, die alle Menschen aufgewühlt haben und dies bis heute noch tun. An Plädoyers, die nicht nur die Justiz eines Landes durcheinander gewirbelt haben, sondern ein ganzes Stück auch die Geschichte der Welt.
    Emile Zola hat einst seine Wut herausgeschleudert, in Worten, die wie Blitze einschlugen, in einer einzigen Anklage. »J’accuse!« nennt der französische Schriftsteller denn
auch seinen auf Seite eins der Pariser Zeitung »L’Aurore« am 13. Januar 1898 veröffentlichten Brandbrief an Félix Faure, den Präsidenten der Republik. Er plädiert nicht in eigener Sache; Zola ergreift für den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus Partei, der offensichtlich unter einem Vorwand als Landesverräter verhaftet wurde. Er prangert den herrschenden Antisemitismus an und beklagt die Willkür des Rechtssystems und deren Deckung durch die hohe Politik: »Sie, Herr Präsident, haben die Herzen erobert. Sie sind umstrahlt von dem Glanz des patriotischen Festes. Aber welch eine Befleckung Ihres Namens – ich hätte fast gesagt Ihrer Regierungszeit – ist diese abscheuliche Affäre Dreyfus! Ich werde die Wahrheit sagen, denn ich habe versprochen, sie zu sagen. Es ist meine Pflicht zu sprechen, ich will nicht Komplice sein. Meine Nächte würden gestört sein von dem Geist des Unschuldigen, der dort unten unter den furchtbarsten Qualen für ein Verbrechen büßt, das er nicht begangen hat. Für Sie Herr Präsident, schreie ich die Wahrheit in die Welt – mit der ganzen Gewalt der Empörung eines ehrlichen Mannes. Im Interesse Ihrer Ehre bin ich überzeugt, dass Sie nichts davon wissen. Vor wem soll ich den Haufen schuldiger Übeltäter anklagen, wenn nicht vor Ihnen, der ersten Autorität des Landes?«
    Der Brief verursacht einen ungeahnten politischen Sturm, der Frankreich tief spaltet; die Staatsmacht zeigt sich beeindruckt. Erst reduziert man das Strafmaß von Dreyfus; dann wird er begnadigt, 1906 schließlich rehabilitiert. Zola, der berühmte Autor von »Der Totschläger« und »Der Zusammenbruch«, erlebt das nicht mehr. Er stirbt vier Jahre zuvor an einer Rauchvergiftung. Vielleicht ist es ein Unfall, vielleicht ein Mord – man weiß es bis heute nicht.

    Fast ein halbes Jahrhundert später, am 16. Oktober 1953, steht Fidel Ruz Castro vor Gericht und hält seine Brandrede. Der Revolutionär und seine Männer haben eine der symbolischen Hochburgen der Batista-Diktatur, die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, überfallen; die Mehrzahl der Angreifer starb bei dem selbstmörderischen Kommando. Ein Dutzend und der Anführer
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