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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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Gesetzlosigkeit.
    Klar, dass das nicht von selbst und von einem Tag auf den anderen geschehen konnte. Aber so zu tun, als ob wir vorankämen, während wir in Wirklichkeit auf der Stelle treten und sogar zurückfallen, das ist, auch wenn es sich den Anschein eines edlen Konservativismus gibt, inzwischen unmöglich und schlicht gefährlich für unser Land.
    Man kann unmöglich hinnehmen, dass Menschen, die sich Patrioten nennen, sich derart vehement gegen jede Änderung sperren, die ihre Futtertröge und Privilegien begrenzen würde. Ich erinnere nur an Paragraf 108 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation, in dem es um die Festnahme von Unternehmern oder die Einkommenserklärung von Staatsdienern geht. Die Verhinderung von Reformen beraubt unser Land der Perspektiven. Das ist kein Patriotismus, sondern Heuchelei.
    Ich schäme mich zu sehen, wie einige in der Vergangenheit von mir geachtete Leute versuchen, bürokratische Willkür und Gesetzlosigkeit zu rechtfertigen. Sie geben ihren guten Ruf im Tausch gegen ein ruhiges, privilegiertes Leben im Rahmen des herrschenden Systems.
    Zum Glück sind nicht alle so, und die anderen sind in der Mehrheit.

    Ich bin stolz darauf, dass es unter den tausend Mitarbeitern von Jukos während der sieben Jahre dauernden Verfolgungen keinen einzigen gegeben hat, der bereit gewesen wäre, durch eine Falschaussage seine Seele und sein Gewissen zu verkaufen.
    Dutzende wurden bedroht, von ihren Angehörigen und Freunden getrennt und ins Gefängnis geworfen. Einige wurden gefoltert. Aber obwohl sie ihre Gesundheit und Jahre ihres Lebens opferten, bewahrten sich die Menschen das, was sie für die Hauptsache hielten: ihre Menschenwürde.
    Diejenigen, die diesen schändlichen Fall angezettelt haben – Birjukow, Karimow und andere –, haben uns verächtlich »Händler« (»kommersanty«) genannt, uns als Gesindel bezeichnet, das zu allem bereit ist, um seinen Wohlstand zu retten und nicht ins Gefängnis zu kommen.
    Inzwischen sind Jahre vergangen. Und wer hat sich wie Gesindel verhalten? Wer hat für Geld und aus Feigheit vor der Obrigkeit gelogen, gefoltert, Geiseln genommen?
    Und das haben sie eine »Staatsangelegenheit« genannt!
    Ich schäme mich. Ich schäme mich für mein Land.
    Ich glaube, eines ist uns allen sehr wohl klar: Die Bedeutung dieses Prozesses geht weit über das Schicksal von Platon (Lebedew) und mir hinaus, ja sogar weit über die Schicksale all derer, die im Zuge der großen Abrechnung mit Jukos unschuldig gelitten haben, derer, die ich nicht habe schützen können, die ich aber nicht vergesse und an die ich jeden Tag denke.
    Fragen wir uns doch: Was denkt denn heute ein Unternehmer, eine Führungskraft in der Industrie, schlicht ein gut ausgebildeter, kreativer Mensch, wenn er unseren Prozess
beobachtet und dessen absolut vorhersehbaren Ausgang sieht?
    Die klare Schlussfolgerung jedes denkenden Menschen ist schrecklich einfach: Die Polizei-Bürokratie ist allmächtig. Ein Recht auf Privateigentum gibt es nicht. Die Menschenrechte haben bei einem Konflikt mit dem »System« grundsätzlich keine Geltung.
    Obwohl sogar im Gesetz verankert, werden die Rechte nicht vom Gericht verteidigt. Entweder weil das Gericht ebenfalls Angst hat oder weil es Teil des »Systems« ist. Wen überrascht es, wenn niemand danach strebt, Verantwortung zu übernehmen?
    Wer soll die Wirtschaft modernisieren? Die Staatsanwälte? Die Milizionäre? Die Geheimpolizisten? Eine solche Modernisierung hat man schon einmal versucht, es hat nicht geklappt. Die Wasserstoffbombe und Raketen konnten sie bauen, aber einen eigenen guten, modernen Fernseher, ein eigenes billiges, konkurrenzfähiges modernes Auto, ein eigenes modernes Handy und jede Menge anderer moderner Produkte, das kriegen wir bis heute nicht hin.
    Dafür hat man sich mit bei uns hergestellten, veralteten ausländischen Modellen geschmückt, und die wenigen Entwicklungen russischer Erfinder finden, wenn überhaupt, nur im Ausland Anwendung.
    Was ist aus den im vorigen Jahr unternommenen Initiativen des Präsidenten zur Industriepolitik geworden? Sind sie ad acta gelegt? Dabei waren sie durchaus eine reale Chance, von der Rohstoffabhängigkeit wegzukommen.
    Warum sind sie begraben? Weil es zu ihrer Realisierung nicht nur eines Koroljows und eines Sacharows unter den
Fittichen des allmächtigen Berija 4 und seines Millionenheers bedurft hätte, sondern Hunderttausender von Koroljows und Sacharows, beschützt von gerechten,
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