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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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den ersten beiden Wochen galt für die Pathologie der Mahosot-Klinik dasselbe: Es war viel passiert, aber geändert hatte sich nichts. Herr Geung, der Sektionsassistent, der sein Down-Syndrom wie ein Modeaccessoire zur Schau trug, war an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Er hatte sich köstlich über Dtuis Berichte von ihren Heldentaten in Thailand amüsiert. Zwar verstand er bestenfalls die Hälfte, aber das spielte keine Rolle.
    Dr. Siri hatte sein Vaterland verraten, aber nur zwei Leute wussten davon – drei, wenn man die Wahrsagerin mitzählte. (Sein Schatten trug natürlich ebenso viel Schuld wie er selbst.) Er hatte einen Verräter gedeckt und stattdessen einen Kompromiss geschlossen. Civilai würde allen öffentlichen Ämtern entsagen und im Garten seines Hauses in der ehemaligen US-Militärsiedlung Gemüse anbauen. Der Abschied von seinem geliebten Politbüro war Strafe genug. Keiner von beiden würde je wieder ein Wort über den Ubon-Putsch verlieren. Nachdem er ausgiebig auf den Fluss gestarrt und sein Gewissen dabei einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte, war er zu dem Schluss gelangt, dass er mit diesem kleinen Treubruch leben konnte, und widmete sich wieder seinem Alltag. Dtui aß, Richter Haeng nahm übel, und der Verrückte Rajid drehte nackt seine Runden um den Nam-Phou-Brunnen, ganz so, als wäre der blinde Zahnarzt nie vor einen chinesischen Holztransporter gelaufen. Doch dann kam der Tag, der alles auf den Kopf stellte.
    Siri saß in seinem Büro und bastelte an einem Bericht, in dem er ein Aneurysma der Milzarterie so zu erklären versuchte, dass es selbst Richter Haeng verstand. Er durchforstete die Worte des Vorsitzenden Mao gerade nach einem treffenden Vergleich, als ein ganz und gar unverhoffter Gast den Raum betrat. Dtui, Geung und Siri blickten von ihren Schreibtischen auf, als Daeng in der Tür erschien.
    »’tschuldigung«, sagte sie. »Aber es gab keine Klingel, da bin ich einfach hereingekommen.« Siri ging freudestrahlend auf sie zu.
    »Nanu«, sagte er. »Abgesehen von Henry Kissinger bist du so ziemlich der letzte Mensch, den ich in meiner Pathologie erwartet hätte.«
    »Du kennst mich ja, Siri. Ich hatte so einen merkwürdigen Impuls, und wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe …«
    Er stellte sie seinen Mitarbeitern vor und bot ihr den Gästesessel vor seinem Schreibtisch an.
    »Bleibst du länger in der Stadt?«
    »Es ist schon komisch«, sagte sie. »Eigentlich sollte es nur eine Stippvisite werden, ich wollte ein paar alte Freunde besuchen, mir die Sehenswürdigkeiten ansehen. Aber dann, vor dem Chantabuli-Tempel, fiel mir plötzlich diese heruntergekommene kleine Garküche auf, die zum Verkauf stand. Die Besitzerin hat mich förmlich auf Knien angefleht, das Lokal zu übernehmen. Fast hätte sie es mir geschenkt.«
    »Ach was.« Siri errötete. Er schaute seinem Gast über die Schulter und sah, dass Dtui grinste. »Soll das heißen …?«
    »Also, wenn ich den ganzen Papierkrieg lebend überstehe, könnte es sein, dass ich nach Vientiane ziehe.«
    Siri gab sich äußerlich gelassen, schlug innerlich jedoch Purzelbäume. »Ausgezeichnet. Äh, ich meine, dann gibt es in dieser Stadt endlich einmal anständige Nudeln. Und worum genau drehte es sich bei dem ›Impuls‹, der dich hierhergeführt hat?«
    »Um eine historische Frage, die ich nie so recht habe klären können.«
    »Kann ich dir dabei eventuell behilflich sein?«
    Sie stand auf und streckte ihre alten Beine. »Ich rechne fest mit deiner tatkräftigen Unterstützung, Siri. Aber jetzt habe ich mich schon wieder verplaudert, dabei habe ich noch so viel zu erledigen. Außerdem halte ich dich nur ungern von deiner Arbeit ab, was auch immer du hier treibst. Mach’s gut.« Sie nickte Geung und Dtui zu. »Hat mich gefreut. Auf Wiedersehen.«
    Siri begleitete sie zur Tür und kam mit geröteten Wangen und einem unauslöschlichen Lächeln auf den Lippen zurück.
    »Wie habe ich denn dieses lüsterne Grinsen zu deuten, Dr. Siri?«, fragte Dtui.
    »Er hat eine F… F… Freundin«, stellte Herr Geung ungerührt fest.
    Siri überging ihre Sticheleien mit Schweigen. Er tat, als sei er in Haengs Bericht vertieft, und ignorierte Dtuis Ablenkungsversuche. Anfangs nahm er an, dass sie aus bloßer Neugier geblieben war, nachdem die Sirene das Pflegepersonal zum Radieschenpflücken beordert hatte. Er wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass auch sie die eine oder andere Überraschung in petto hatte. Er
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