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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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wollte eben seine Unterschrift unter den fertigen Bericht setzen, als sich ihr mächtiger Schatten zwischen ihn und die tiefstehende Abendsonne schob.
    »Schwester Dtui, Sie sind nicht aus Glas.«
    »Ich habe meinen Bananenpufferkonsum drastisch eingeschränkt.«
    »Trotzdem …«
    Sie trat ein Stück beiseite, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
    »Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen über Madame Daeng zu diskutieren«, sagte er.
    »Darum geht es nicht«, erwiderte sie.
    Sie wirkte unsicher, und das war ganz und gar nicht Dtui-like.
    »Setzen Sie sich«, sagte er. Sie sank in den Sessel vor seinem Schreibtisch. Er legte seinen Kugelschreiber auf den Bericht und verschränkte die Arme. »Raus mit der Sprache!«
    »Ich …«
    Er konnte sich nicht entsinnen, dass er sie jemals hatte zögern sehen.
    »Sie …?«
    »Ich habe dem Komitee für Auslandsstudien mitgeteilt, dass ich … dass ich im Januar nicht nach Moskau fliege.«
    Siris Augen traten wie Golfbälle aus ihren Höhlen. »Wie bitte?«
    »Ich habe um zwei Jahre Aufschub gebeten.« Er war wie vor den Kopf geschlagen. Einen Platz im Studienprogramm zu ergattern war schwieriger, als in einem sozialistischen Staat ein eisgekühltes Bier zu finden. »Das Komitee hat eingewilligt.«
    »Dtui, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Seit Ihrem Schwesterndiplom haben Sie Tag und Nacht dafür gebüffelt. Es war Ihr Traum, in der Sowjetunion zu studieren.«
    »Ich weiß.«
    »Was, zum Trotzki, ist passiert?«
    Sie beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und verknotete die Finger.
    »Erst die Geschichte mit Ma. Ich hatte immer gedacht, wenn ich ins Ausland gehe, suche ich mir einen Halbtagsjob und schicke ihr Geld für die Behandlung. Dann ist sie …«
    »Das war nie der wahre Grund, das wissen Sie genauso gut wie ich. Ihr Gehirn ist wie ein Schwamm, Fräulein Dtui. Es dürstet nach Wissen. Das war schon immer so. Das war immer schon Ihr eigentlicher Antrieb. Eine Gelegenheit wie diese bekommen Sie nie wieder. Sie haben … wir alle haben jede Menge Zeit und Arbeit investiert, um Ihnen diese Chance zu ermöglichen, und jetzt wollen Sie einfach aufgeben? Wenn es dafür keinen anderen Grund gibt …«
    »Doch, den gibt es.« Sie seufzte. »Versprechen Sie mir, dass Sie nicht an die Decke gehen, wenn ich es Ihnen sage?«
    »Ich bin auf alles gefasst.«
    »Ich bin schwanger.«
    Ihm wurde klar, dass er gelogen hatte; darauf war er keineswegs gefasst gewesen. Hätte er nicht gesessen, wäre er aus den Sandalen gekippt.
    »Was?«
    »Sie haben richtig gehört.«
    »Wie?«
    »Das brauche ich Ihnen doch wohl nicht ernsthaft zu erklären.«
    Siri war so überwältigt, dass er sich nicht um korrekte Grammatik scherte. »Also … Sie … wie? Wer?«
    »Ganz ruhig. Jetzt atmen Sie erst mal tief durch, dann reden wir über die Details.«
    »Mir hat es nicht den Atem verschlagen, sondern die Sprache.«
    »Na, Gott sei Dank. Vielleicht komme ich dann ja endlich mal zu Wort. Das ist nämlich auch für mich keine Kleinigkeit. Man wird schließlich nicht alle Tage schwanger. Eine Premiere jagt die andere: das erste Baby, das erste …«
    »Himmel.« Siri öffnete seine Schublade und durchwühlte sie. »Wer war es? Wer hat Ihnen das angetan?«
    »Sie suchen doch hoffentlich keine Pistole?«
    »Wenn ich eine hätte, würde ich Sie wahrscheinlich erschießen. Aber vorläufig suche ich nur eine Visitenkarte.« Er zog die Schublade heraus und stellte sie auf den Schreibtisch. »Sie muss hier irgendwo sein. Na los, ich warte auf eine Antwort.«
    Als er aufblickte, sah er, dass sie die Bodenfliesen inspizierte. Ihre schuldbewusste Miene verriet ihr Geheimnis.
    »Nein.«
    »Doch.«
    »In Ubon?«
    »Zwei Mal.«
    »Dann brauche ich wohl doch eine Pistole.«
    »Nein, Doc. Das ist wirklich nicht nötig. Ich habe mich auch nicht gerade geziert.«
    »Wie können Sie sich schon jetzt so sicher sein?«
    »Wir leben in den Siebzigern, Doc. Die Medizin hat große Fortschritte gemacht, seit Sie studiert haben.«
    »Dtui, das ist kein Spiel. Außerdem ist er verheiratet, verdammt noch mal.«
    »Seine Frau hat ihn verlassen. Er hat in ihrer Abwesenheit die Scheidung eingereicht. Sie ist seit letztem Monat durch.«
    »Wie praktisch. Hier.« Er pulte eine alte Halspastille von der gesuchten Visitenkarte und hielt sie triumphierend in die Höhe. »Zum Glück habe ich die aufbewahrt. Das ist eine Ärztin, die ich über die Frauenunion kennengelernt habe. Sie genießt einen ausgezeichneten Ruf.« Er
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