Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Stellvertreter. Auf diese Weise hätte ich auf sämtliche Entscheidungen direkten Einfluss nehmen und endlich etwas bewirken können. Warum auch nicht? Ich wäre nicht halb so ohnmächtig gewesen wie jetzt.«
Siri seufzte und setzte sich wieder. »Und du hast mir kein Wort davon gesagt, weil …?«
Civilai zögerte. Er schien zum ersten Mal über diese Frage nachzudenken. »Weil ich Zweifel hatte, ob du mitziehen würdest«, sagte er schließlich.
Siri lehnte sich bequem zurück und gönnte seinem müden Körper und seiner leidgeprüften Seele etwas Ruhe. Er versuchte das Szenario in Gedanken durchzuspielen: Angenommen, Civilai hätte ihm anvertraut, dass er die Absicht hatte, bei einem Staatsstreich mitzuwirken. Natürlich hätte er seinem Freund das ausgeredet. Da hatte er nicht den geringsten Zweifel. Aber warum konnte er ihm das nicht sagen? Warum fehlten ihm die Worte? Die Wolken ließen ein warnendes Grollen vernehmen. Im Zimmer war es jetzt so dunkel, dass sie sich hätten anschauen können, ohne einander zu sehen. Doch beide starrten beharrlich in den Himmel. Schließlich durchbrach Civilais heisere Stimme das eisige Schweigen.
»Was hast du jetzt mit mir vor?«
»Was soll ich mit dir vorhaben?«
»Du hast doch offensichtlich über eine angemessene Strafe nachgedacht.«
»Ganz und gar nicht.«
»Weil du genau weißt, dass meine Entscheidung richtig war. Wir sind eben doch Brüder im Geiste.«
Siri lachte. »Wohl kaum. Sonst hättest du nicht solche Angst gehabt, mich in eure Wahnsinnspläne einzuweihen.« Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Kein halbwegs klar denkender Mensch würde eine zwei Jahre alte Regierung durch eine Bande abtrünniger Offiziere mit den Taschen voller Dollar ersetzen und ernsthaft damit rechnen, dass sich dann alles zum Guten wendet. Verstehst du denn nicht? Die alten Verbrecher säßen im Handumdrehen auf ihren angestammten Posten. Die vietnamesischen Berater würden gegen thailändische Berater ausgetauscht, und schon hätte der Kapitalismus uns wieder in den Klauen. Es wäre hundert Mal schlimmer als vorher.
Ja, wir sind griesgrämige alte Männer. Ja, wir nörgeln. Das liegt uns im Blut. Aber doch nur, weil uns die nötige Geduld fehlt. Nachdem wir so lange gekämpft hatten, wollten wir unsere Welt in sieben Tagen neu erschaffen. Wir wollten, dass alles über Nacht blüht und gedeiht, weil wir insgeheim Angst hatten, dass wir das sonst vielleicht nicht mehr erleben. Aber beim heiligen Buddha, so etwas geht doch nicht von heute auf morgen. Also wirklich. Am liebsten würde ich dir eine reinhauen.«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Siri stand auf, trat vor die dunkle Silhouette seines Freundes und hob die Hand. Aber er brachte es nicht fertig. Hinter ihm prasselten erste Regentropfen gegen die Fensterscheiben, und Blitze zuckten durch die Wolken. Er ließ die Hand wieder sinken und betrachtete seinen gebrochenen Freund. Civilai vergrub schluchzend den Kopf in den Händen. Seine Schultern bebten. Blitze erhellten einen Mann so alt wie die Erde. Siri kniete sich auf den Fußboden und legte die Hände auf Civilais spitze Knie. Ihm war eine Strafe eingefallen.
Als Siri in die Hotelhalle zurückkam, waren Dtui und Phosy nicht mehr da. Zum Glück, denn es wäre ihm gewiss nicht leichtgefallen, Heiterkeit zu heucheln. Auf dem Empfangstresen und einigen Tischen standen Windlichter, deren Flammen in dem dunklen Saal kaum zu sehen waren. Er marschierte Richtung Ausgang, um im strömenden Regen spazieren zu gehen. Das hatte er sich in seiner Zeit in Vietnam angewöhnt. Die dortigen Tropenstürme traktierten den Körper wie ein Schmiedehammer das Eisen auf dem Amboss, und wenn man nicht gerade vom Blitz erschlagen wurde, hatten sie eine therapeutische, ja belebende Wirkung. Doch auf halbem Weg zu der verrammelten Tür rief eine Stimme seinen Namen.
»Siri?«
Es war Daeng. Sie saß im dunklen Empfangsbereich und erwartete ihn in einer hübschen rosa Bluse und einem frisch gebügelten phasin . Sie trug das Haar offen. Dicht und grau fiel es ihr auf die Schultern. In dem düsteren Licht waren ihre Falten fast verschwunden, ihre Wangen erschienen fülliger, und einen Augenblick lang war sie wieder die begeisterte junge Köchin, die ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, arbeitsam und wissbegierig. Sie trat vor ihn hin, musterte ihn und zog die Augenbrauen hoch. Sie musste gegen den lärmenden Regen anbrüllen.
»Meine Güte«, schrie sie. »Ich wollte dir etwas
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