Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Brans Reise

Titel: Brans Reise
Autoren: Andreas Bull-Hansen
Vom Netzwerk:
und der verbrannte Trockentang blieb liegen und glühte.
     
    Es war noch immer Nacht, als er erwachte. Das Zelt zitterte unter den Windstößen. Es war stockfinster und kalt, denn die Glut war erloschen. Bran bewegte sich vorsichtig von ihr weg. Dann schob er die Kiste vor der Zeltöffnung beiseite und kroch hinaus.
    Die Wellen schlugen auf den Strand, und der Schnee fegte über den Platz. Unter dem schwarzen Himmelszelt trieben dunkelblaue Wolken von Westen heran. Er stemmte sich gegen den Wind und kämpfte sich zum Hafen hinüber. Dann erreichte er die Straße, stapfte durch die Schneeverwehungen und taumelte auf den Anleger. Der Schneewind heulte um die Hauswände und sang an den eingefrorenen Zweimastern.
    Er ging auf die Mole. Von dort aus konnte er die Langschiffe auf dem Strand im Westen der Stadt sehen. Wie dunkel das Meer vor dem schneebedeckten Land lag. Er sah die Wellen über das Eis schlagen, und er sah das Meer und den Himmel. Das Wasser war schwarz mit hellen Schaumstreifen, und jeder Windstoß trieb ihm Salzwasser ins Gesicht.
    Bran sah zu dem Licht, das über dem Horizont im Westen zu ruhen schien. Die Träume waren zu ihm gekommen, während er sie umarmt und das Leben gespürt hatte, das in ihrem Bauch heranwuchs. Er hatte das Meer gesehen, das blutete. Die gewaltigen Wellen. Er war durch den Sturm gesegelt, und auf der anderen Seite hatte er Land gefunden.
     
    Der Graubärtige ist müde. Die ganze Nacht hat er erzählt, und seine Brust ist so wund, dass er nicht einmal mehr zu husten vermag. Doch jetzt scheint der Morgen über das Tal, und er nimmt sich Zeit, über die Baumwipfel zu schauen. Er lässt seinen Blick über sie schweifen und sieht dann zu den Hügeln im Westen, hinter denen sich die schneebedeckten Berge in den Himmel recken. Seit er in diesem Tal ist, sucht er immer wieder diesen Anblick, denn er erinnert ihn an etwas, das er einmal kannte.
    »Weiter«, bittet Shian. »Erzähl weiter, Großvater!«
    Der Graubärtige legt seinen Arm um den Jungen. Sie sitzen dicht beieinander, denn hier oben im Gebirge sind sogar die Sommernächte kalt.
    »Hab Geduld«, sagt er. »Die Nacht lässt uns keine Zeit mehr für weitere Worte. Siehst du nicht, dass es Morgen wird?«
    Der alte Mann zeigt ins Tal hinunter. Nebel zieht langsam zwischen den Bäumen hindurch. Er sieht wie ein Schleier aus, den unterirdische Wesen dort versteckt haben, während sie in der Nacht tanzten. Auf der Lichtung bei der umgestürzten Eiche, wo sich der Fluss zu einem Kolk ausweitet, steht eine Herde Pferde und trinkt. Sie sehen sie nur wie Schatten, wie Geister, ehe sie wieder zwischen den Bäumen verschwinden.
    »Ich bin müde.« Der Graubärtige streckt seinen Rücken und reibt sich die Augen. »Du nicht, Shian?«
    Der Junge zögert. Er sitzt gebeugt unter dem wollenen Umhang und ist in eigene Gedanken versunken. »Kar… Kernu…«, stottert er schließlich.
    »Cernunnos.« Der Graubärtige fährt ihm durch die Haare. »Das ist für unsere Zungen ebenso ungewohnt, wie es für die Tirganer war. Wir nennen ihn hier den Horngott.«
    »Der Horngott?« Der Junge sieht zu dem Alten auf. »Der aus den Liedern?«
    »Der, der über die Ebene zu uns kommen soll.« Ein tiefer Schatten zeichnet sich auf der Stirn des Graubärtigen ab. »Denn er war es, der meinem Bruder die Träume gab und uns so dieses Tal zeigen konnte. Und hier sollen wir warten, bis er kommt.«
    »Aber…« Der Junge blinzelt in die scharfe Morgensonne. »Vater sagt, dass es nicht stimmt, dass es nur ein Lied ist. Er sagt, Brans Sohn sei von einem Bären getötet worden und dass Bran aufgebrochen sei, um ihn zu suchen.«
    Der Alte fasst sich an den Bart und blickt über das Tal, wo Rauchsäulen und der Klang von Axtschlägen verraten, dass das Dorf erwacht ist. »Dein Vater hat Schwierigkeiten zu glauben«, sagt er. »Doch ich klage ihn deswegen nicht an. Denn wie sollte er nach all dem Unglück, das ihm widerfahren ist, an gute Götter glauben? Ich denke so oft voller Schmerzen daran, Shian, denn er ist ja mein Sohn. Es war so schlimm für mich, dass seine erste Frau starb. Sie brachte nie das Kind zur Welt, das sie unter dem Herzen trug.«
    Shian sieht weg, denn der Gräubärtige spricht von etwas, das sein Vater nur selten erwähnt.
    »Konvai wurde wieder wie ein kleiner Junge. Er lag in meinem Schoß und weinte. Neun Sommer vergingen, ehe er sich wieder eine Frau nahm, und da war er kein junger Mann mehr. Dreimal zehn Winter war er damals, und deine Mutter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher