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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache
Autoren: Connie Willis
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geschlossen ist. Ich bin mir ziemlich sicher,
gelesen zu haben, sie sei während des gesamten Blitzkriegs offen
gewesen. Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, werde ich versuchen,
die Ereignisse im September zu memorieren. Um noch mehr Informationen
abrufen zu können, muß ich erst wissen, was hier von mir
verlangt wird, falls ich überhaupt etwas tun soll.
    Für Historiker gibt es weder Richtlinien noch Verbote. Ich
könnte eigentlich offen erzählen, daß ich aus der
Zukunft stamme, wenn ich meinte, man würde mir glauben. Wenn ich
nach Deutschland käme, könnte ich Hitler ermorden. Oder
etwa doch nicht? In der historischen Fakultät spricht man
ständig über das Paradoxe der Zeit, und die graduierten
Studenten, die ihr Praktikum hinter sich haben, äußern
sich weder so noch so. Gibt es eine starre, unveränderliche
Vergangenheit? Oder entsteht jeden Tag eine neue Vergangenheit, und
wir, die Historiker, beeinflussen ihren Verlauf?
    Und welche Konsequenzen hat unser Tun, falls es Konsequenzen gibt?
Und wieso wagen wir es, handelnd einzugreifen, wenn wir die
Konsequenzen nicht kennen? Müssen wir kühn die Weichen
stellen und dabei hoffen, daß wir nicht unseren eigenen
Untergang herbeiführen? Oder dürfen wir gar nichts tun,
sondern sollen nur dabeistehen und tatenlos zuschauen, wie St. Paul
bis auf die Grundmauern abbrennt, um den Verlauf der Zukunft nicht zu
ändern?
    Das sind genau die richtigen Fragen für eine Diskussion bis
in die Nacht hinein. Hier ist es sinnlos, sie zu stellen. Ich kann
genausowenig St. Paul abbrennen lassen, wie ich Hitler umbringen
kann. Nein, das stimmt ja gar nicht. Das habe ich gestern in der
Flüstergalerie gemerkt. Ich könnte Hitler umbringen, wenn
ich ihn dabei erwischte, wie er St. Paul in Brand steckt.

25. September
    Heute traf ich eine junge Frau. Dekan Matthews ließ die
Kirche wieder öffnen, die Wachen beschäftigen sich mit
Reinigungsarbeiten, und allmählich trudeln Leute ein. Die junge
Frau erinnert mich an Kivrin, obwohl Kivrin ein gutes Stück
größer ist und das Haar niemals so kraus tragen
würde. Sie sah aus, als hätte sie geweint. So sieht Kivrin
aus, seit sie von ihrem Praktikum zurück ist. Das Mittelalter
war zuviel für sie. Ich frage mich, wie sie mit dieser Situation
fertiggeworden wäre. Ganz bestimmt, indem sie ihre Ängste
dem hiesigen Priester anvertraut hätte, was ihre
Doppelgängerin hoffentlich nicht tun wird.
    »Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich, obwohl mir nicht
nach Helfen zumute war. »Ich bin einer von den
Freiwilligen.«
    Sie machte ein bestürztes Gesicht. »Sie werden nicht
bezahlt?« wollte sie wissen und wischte sich mit einem
Taschentuch die gerötete Nase. »Ich habe von St. Paul und
der Brandwache und allem gelesen, und ich dachte mir, hier gäbe
es vielleicht eine Stelle für mich. In der Kantine oder so. Aber
gegen Bezahlung.« In ihren Augen standen Tränen.
    »Leider haben wir keine Kantine«, sagte ich so
freundlich wie möglich und dachte daran, wie Kivrin mich
jedesmal aufregt. »Und besonders geschützt ist man hier
auch nicht. Ein paar von uns schlafen in der Krypta. Wir sind aber
alle Freiwillige.«
    »Dann kommt das für mich nicht in Frage«, sagte
sie. Mit dem Taschentuch betupfte sie sich die Augen. »Ich liebe
St. Paul, aber unbezahlte Arbeit kann ich nicht übernehmen,
schließlich muß ich für meinen kleinen Bruder Tom
sorgen, der vom Land zurück ist.« Ich durchschaute die
Situation nicht ganz. Trotz aller äußeren Anzeichen von
Kummer klang ihre Stimme fröhlich und nicht so, als ob sie
weinte. »Ich muß für uns eine ordentliche Unterkunft
finden. Tom kann nicht ständig in den U-Bahn-Schächten
schlafen.«
    Plötzlich verspürte ich eine Anwandlung von Angst, eine
Art stechenden Schmerz, wie er auftritt, wenn das Gedächtnis
unbewußt angezapft wird. »In den
U-Bahn-Schächten?« fragte ich und versuchte, die
Information ins Bewußtsein zu holen.
    »Meistens schlafen wir in der Station Marble Arch«, fuhr
sie fort. »Tom geht früh hin und hält uns einen Platz
frei, ich gehe dann…« Sie unterbrach sich, hielt sich das
Taschentuch dicht vor die Nase und schnaubte heftig hinein.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Dieser schreckliche
Schnupfen!«
    Rote Nase, tränende Augen, Niesen. Infektion der Atemwege.
Ein Wunder, daß ich ihr nicht gesagt hatte, sie solle nicht
weinen. Nur durch Zufall ist mir bis jetzt kein unverzeihlicher
Schnitzer passiert und nicht etwa dadurch, daß ich nicht an
mein
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