Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
die Scheiße reiten willst.«
Rohrbach ging nicht darauf ein.
»Hast du mal über die Zukunft an sich nachgedacht?« , fragte er stattdessen. »Ich habe es getan, Ehmke. Lange und gründlich. Und bin zu dem Ergebnis
gekommen, dass sie vor allem eine Last ist. Du musst dich nur von deiner Zukunft verabschieden, dann bist du frei. Es ist so einfach, dass ich mich frage, warum ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Aber wie sagt man so treffend: besser spät als nie.« Rohrbach erhob sich. »Du wirst mich zu nichts mehr zwingen, Ehmke. Zu gar nichts. Du wirst dieses widerwärtige Spiel allein weiterspielen müssen, und ich denke, du wirst es verlieren.«
Thiel schaffte es bis zum Parkplatz am Schöpfwerk, stellte den Motor ab und legte die Stirn auf das Lenkrad. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er sich vor Möhles Haus. Hörte das Dröhnen seiner Schläge gegen die Tür und sein Gebrüll und das panische Schreien der Kinder. Er hatte nicht aufhören können, hatte weitergetobt, obwohl er wusste, dass es vergeblich war. Möhle hätte sich nicht verkrochen, wenn er zuhause gewesen wäre.
Thiel hob den Kopf. Er ließ die Scheibe herunter und starrte auf die Straße. In der kalten Luft, die hereinströmte, wurde sein Kopf allmählich wieder klar. Ein Auto näherte sich, wurde langsamer und beschleunigte wieder, als er mit einer Handbewegung klarmachte, dass er weder eine Panne hatte noch sonst irgendwie Hilfe brauchte. Jedenfalls keine mit Wagenheber und Schraubenschlüssel.
Bevor er weiterfuhr, drehte Thiel sich eine Zigarette, rauchte und versuchte Ruhe in den Aufruhr seiner Gedanken
zu bringen. Ein Teil von ihm wünschte sich das Vergessen, wollte sich abfinden und mit der Freiheit zweiter Wahl zufriedengeben. Er wollte sich in das Unabänderliche fügen, sich dann und wann betrinken, wenn ihm die Dankbarkeit dafür ausging, dass man ihn duldete, und warten, ob sich die Dinge nicht doch irgendwann änderten. Und dann gab es den anderen Teil in ihm, den, der sich nicht abfinden wollte. In dem eine Wut brodelte, die ihn um den Verstand brachte. Der wie betäubt war von Hass und mehr nach Rache als nach Gerechtigkeit gierte. Der Teil, der sein Leben endgültig zerstören würde, wenn er ihm freien Lauf ließ.
Thiel stöhnte.
Er fühlte sich zerschlagen. Hin und her geworfen wie ein Wrack, für das es keine Richtung mehr gab. Das in schwerer See schlingerte, bis es strandete oder sank.
Thomas Rohrbach kam nur mühsam voran. Wenn die Harschdecke brach, sank er knöcheltief ein und musste sich gegen den scharfen Nordwestwind vorbeugen, um den nächsten Schritt tun zu können. Die eisige Luft brannte in seinen Lungen, und schon nach der Hälfte des Weges zwischen Hafen und Steilküste war er so erschöpft, dass er am liebsten liegen geblieben wäre, als er ausglitt und fiel.
Warum sich in sinnloser Verbissenheit noch weiter quälen?
Er vertrieb den Gedanken und rappelte sich wieder auf. Stand eine Weile schwer atmend in der Dunkelheit und betrachtete die Silhouette des Dorfes, in dem er jedes Haus, jeden Weg und jeden Menschen kannte, der länger als ein paar Sommerwochen dort lebte.
Von hier fortgetraut hatte er sich nie. Hatte Armee und Studium irgendwie hinter sich gebracht und war zurückgekommen. Hatte das bekannte Unglück dem unbekannten Glück vorgezogen und war geblieben. Hatte sich nach der Weite gesehnt und die Enge gewählt. Die Ehe, die Schule, das Dorf. Hatte gehofft, so viel Normalität werde ihm helfen, normal zu werden. Ihn von der Lust am Sehen und der Angst vorm Gesehenwerden befreien. Von der Scham, die ihn fast erstickte, wenn die Erregung ausgekostet war und er davonschlich.
Wie ein Süchtiger hatte er mit sich gerungen. Sich tausend Gelübde abgenommen und sie tausendfach wieder gebrochen. Immer war die Lust mächtiger als die Angst gewesen.
Was für ein erbärmliches Leben.
Rohrbach drehte sich um. Er richtete den Blick auf die Schneewüste vor sich und sah auch nicht noch einmal zurück, als er das Ufer unter der Steilküste erreichte.
Er war am Ziel. Am einzigen Ort, an dem er in dieser Stunde sein wollte. Dem Ort, an dem seine Seele zuhause war, den er kannte, seit er denken konnte. Er liebte den Sommer, wenn das Wasser träge die Walrossrücken
der Findlinge umspülte und den Tang wie Frauenhaar schweben ließ, wenn er den Rücken an die sonnenwarme Steilwand lehnen und den Schwalben zusehen konnte, bis sie sich im Herbst auf ihre Reise nach Süden machten. Er hatte
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