Bragg 04 - Dunkles Verlangen
überfälligen Besuch abstatten konnte. Kurz darauf hatte er erfahren, dass Lindley ebenfalls geschäftlich in Amerika weilte. Einen solchen Zufall gab es nicht, deshalb war er verärgert gewesen. Und dann hatte Gordon auch noch bestätigt, dass die beiden gemeinsam gereist waren.
»Und – verbringt sie die Nächte mit ihm?«, hatte der Earl gebrüllt und in dem Augenblick nur den einen Wunsch verspürt: beide umzubringen.
»Ich habe Euch doch schon gesagt, dass Jane Euch liebt«, hatte Gordon seine Schutzbefohlene sofort verteidigt. »Lindley ist für sie noch nie mehr als ein Freund gewesen, selbst wenn er in sie verliebt sein mag. Außerdem ist Jane nicht so eine Frau, und wenn Sie das nicht wissen, wird es allmählich Zeit.«
Aber er wusste es ja – oder etwa nicht? Sie hatte sich ihm hingegeben, als sie siebzehn gewesen war, und war in den Jahren seither mit keinem anderen Mann intim gewesen. Wenigstens bis jetzt: Es sei denn, dass sie aus Wut und Verletztheit …
Der Gedanke war unerträglich. Und so sehr er auf der einen Seite den Impuls verspürte, sie zu töten, sollte sie ihm untreu geworden sein, so sehr fühlte er sich von seiner anderen, seiner dunklen verzweifelten Seite gedrängt, ihr alles zu vergeben, falls sie nur zu ihm zurückkehren würde.
Sein Bruder lebte in einem prachtvollen Backsteinhaus oben auf einem Hügel. Das Anwesen war von einer Backsteinmauer umgeben, die von schmiedeeisernem Gitterwerk gekrönt wurde. Als die Kutsche durch das offene Tor fuhr, erschien auf Nicks Gesicht ein anerkennendes Lächeln. Sah ganz so aus, als ob Rathe es inzwischen weit gebracht hatte, was den Earl allerdings keineswegs überraschte. Sein Bruder hatte ihm schon immer davon erzählt, dass er überall in Amerika Geld investiert habe, aber dass er dabei solchen Wohlstand angehäuft hatte, das hatte Nick bislang noch nicht gewusst. Hohe mächtige Kiefern, zweifellos aus dem Norden des Staates New York, säumten die lange, geschwungene Auffahrt. Neben ihm auf der Sitzbank rutschte Chad hin und her und konnte seine Aufregung kaum verbergen.
Nick strich seinem Sohn über das Haar und spürte, wie auch sein eigenes Herz schneller zu schlagen anfing.
Es lag zwar erst einige Jahre zurück, seit er Rathe zuletzt gesehen hatte, aber selbst das erschien ihm schon zu lange. Und wenn eine zweijährige Trennung von meinem Bruder schon zu lang ist, dachte er, wie mag es dann wohl sein, wenn ich meine Eltern nach über zehn Jahren zum ersten Mal wieder sehe? Plötzlich waren die alten Schmerzen und Verletzungen wieder da, doch hatten sie inzwischen viel von ihrer Wucht verloren. Und zwar wegen Jane. Er wusste, dass der Entschluss, nach Amerika zu reisen, richtig gewesen war. Als Erstes musste er Jane finden und die Dinge, die zwischen ihnen standen, aus der Welt schaffen. Auf gar keinen Fall wollte er nämlich ohne sie nach Texas weiterreisen. Und dann wollte er Chad den Westen zeigen, die Ranch, die genauso zu dem familiären Hintergrund seines Sohnes gehörte wie Dragmore. Und er wollte den jungen mit seinen Großeltern, seinem Großvater bekannt machen.
Und das alles verdankte er Jane. Er wusste nur zu gut, dass er auch nur ein Jahr zuvor eine Reise nach Texas nicht einmal im Entferntesten in Betracht gezogen hätte. Aber das war noch vor Janes Zeit gewesen. Bevor sie ihm ihre Liebe geschenkt und ihm Mut gemacht hatte – unvorstellbar viel Mut sogar –, bevor sie ihm wieder bewusst gemacht hatte, was es mit der Liebe auf sich hatte, was eine Familie bedeutete. jetzt konnte er sich kaum noch vorstellen, dass er seine Reise, seine Versöhnung mit seinen eigenen Eltern, mit seinem eigenen Vater so lange hinausgezögert hatte. Doch andererseits kannte er den Grund natürlich ganz genau. Denn bevor Jane in sein Leben getreten war, war für ihn nichts wirklich von Bedeutung gewesen. Erst sie hatte das verändert – sein ganzes Leben verändert.
Die Kutsche hielt vor der imposanten Freitreppe aus rosafarbenem Granit, die zu den großen aus Teakholz gearbeiteten Flügeltüren der Prachtvilla hinaufführten. Nick bedankte sich beim Kutscher, gab ihm das Fahrtgeld und stieg dann hinter seinem Sohn aus der Kutsche. In genau diesem Augenblick erschien Rathe mit einem strahlenden Lächeln und leuchtenden blauen Augen in der Eingangstür. Hinter ihm sah Nick eine wunderschöne groß gewachsene brünette Frau, die eigentlich nur Rathe’ Frau sein konnte.
»Nick!«
Das Lächeln des Earls kam von Herzen und brachte die
Weitere Kostenlose Bücher