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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Autoren: Víctor Conde
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eines Menschen würde die Klinge einfach hindurchgleiten, ohne auch nur den kleinsten Schaden anzurichten.
    Sie durchschaute den Plan ihrer Feinde. Die Dämonen konnten nicht wissen, dass sie viel zu schwach war, um das Schwert hervorzubringen. Also opferten sie lieber etwas Zeit, um sich in lebende Materie zu verwandeln und sich so vor ihr zu schützen.
    Dumm waren sie nicht. Aber auch Séfora konnte für kurze Zeit in ihren physischen Körper zurückkehren. Noch eine Fähigkeit, von der die Dämonen nichts wussten.
    »Das Mädchen verlässt den Saal. Wir folgen ihr, und dann wird uns hoffentlich schon was einfallen.«
    Das ist für sich betrachtet noch kein guter Plan, Séfora. Das weißt du, oder?
    »Wenn dir was Besseres einfällt, lass es mich wissen«, raunte sie und flog dicht hinter dem Mädchen her zum Ausgang.
    Tanya verließ mit ihren Eltern das Gebäude, und sie stiegen in ein Taxi.
    Der Wagen hielt direkt vor dem Eingangsbereich des Hochhauses. Tanyas Familie, zu der auch ihr Großvater, ein Wellensittich und zwei absolut gleich aussehende Perserkatzen gehörten, die den armen Vogel ununterbrochen belauerten, konnte es sich nicht leisten, in einem der hübschen Einfamilienhäuser zu wohnen, die man in Filmen sah, mit Garten und Garage und Solarium und dem ganzen Luxus, der zum »Europäischen Traum« dazugehörte.
    Sie lebten in einer kaum fünfzig Quadratmeter großen Mietwohnung im Arbeiterviertel der Stadt. Ihr Vater hatte sie über einen Freund aus der Baubranche zu einem guten Preis bekommen. Sie war klein, aber sie hatte auch ihre positive Seite: Sie befand sich hoch über der Stadt. Das Haus war ein dreißig Jahre alter und fünfundzwanzig Stockwerke hoher Turm, der wie ein Betonhalm der Tundra der Vorstadt entwuchs. Die Familie wohnte in der vierundzwanzigsten Etage.
    Für einen verträumten Teenager mit einer rastlosen Seele wie Tanya war die Höhe ein klarer Vorteil. Tanya war ein Einzelkind, was ihr Wesen auf eine ganz konkrete Weise geprägt hatte. Einerseits musste sie sich mit niemandem um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Eltern streiten, andererseits hatte sie auch niemanden, mit dem sie spielen konnte, weshalb sie sich manchmal einsam fühlte. Ihre Eltern hatten mehrmals darüber nachgedacht, die Familie zu vergrößern, aber ein einziger Blick auf den monatlichen Kontoauszug hatte jedes Mal ausgereicht, um das Vorhaben schon im Keim zu ersticken: Sie schafften es jeden Monat mit Hängen und Würgen gerade bis zum nächsten Zahltag, es war immer das Gleiche. Und das auch nur, wenn sie keine außergewöhnlichen Ausgaben hatten wie zum Beispiel die unerwartete Abbuchung einer Versicherungsprämie oder den Einzug der Schulgebühren für das neue Schuljahr. Die Hoffnungen auf ein »Pärchen«, ein Mädchen und einen Jungen, das ihrem Zuhause mehr Lebendigkeit verleihen würde, glitten durch ihr eigenes Gewicht ins Absurde ab. Es war kein Geld da, und damit basta.
    Und da kam das Hochhaus ins Spiel. Tanya gehörte zu den Menschen, die ein geheimes Tagebuch führten. Sie schrieb jeden Tag etwas hinein, ob es nun etwas Interessantes zu erzählen gab oder nicht. Wenn ihr im Laufe des Tages etwas Besonderes passiert war, fasste sie es abends in ein paar Zeilen zusammen und notierte sich, wie es ihr dabei ergangen war. Ob es ein Gefühl in ihr ausgelöst oder ihre Wahrnehmung von etwas oder jemandem beeinflusst hatte … alles, was irgendwie von Bedeutung war. Wenn sie überhaupt nichts erlebt hatte, das eine Erwähnung wert war, schrieb sie einfach ein Gedicht auf oder ermahnte sich schriftlich, am nächsten Tag ein bisschen glücklicher zu sein.
    Um so ein Tagebuch zu führen, sind drei Dinge unentbehrlich: ein Kugelschreiber, das Tagebuch selbst (sprich ein Schreibheft mit so vielen Seiten, dass alle Kalendertage eines Jahres darin Platz haben) und ein Platz, an dem man den Blick nachdenklich in die Ferne richten kann. Tanya nannte diesen Platz ihren Aussichtspunkt. Damit war ein kleiner Fenstersims gemeint, der sich nicht außen, sondern innen, in ihrem Zimmer, befand. Der Architekt hatte das Gebäude so entworfen, dass die Fenster mit der Fassade eine Linie bildeten, um dem Turm von unten ein glattes Aussehen zu verleihen. Und Tanya hatte er auf diese Weise einen Platz geschenkt, an den sie sich zum Schreiben hinsetzen konnte.
    Mit angezogenen Knien saß sie dann gegen das Fenster gelehnt auf dem Sims und blickte wie die Prinzessin von ihrem hohen Turm hinunter auf die Stadt. Auf das
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