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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Autoren: Víctor Conde
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Blick ins Jenseits, ohne etwas Konkretes zu fokussieren. Die Stimmen und Geräusche erreichten sie jetzt nur noch auf einer zweiten Ebene, bis sie sie schließlich ganz ausblenden konnte. Die Luft strömte wieder durch ihre Lungen. Ein. Und aus. Ein. Und aus.
    Manche ihrer Freundinnen meinten, sie habe ein klaustrophobisches Problem, aber sie irrten sich. Geschlossene Räume machten ihr nichts aus. Im Gegenteil übten dunkle, enge, modrige Räume sogar eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus. Nein, sie hatte höchstens mal kleine Anfälle von Agoraphobie, der Angst vor freien Plätzen, also dem entgegengesetzten Phänomen. Wenn die Welt zu groß wurde, um sie mit dem bloßen Auge zu erfassen, wenn sie sich mit Lärm und Menschenmassen füllte, dann musste sie den Hebel umlegen und alles, was um sie herum war, einfach ausschalten. Und gerade diesem Zustand der Konzentration war es zu verdanken, dass sie Séfora sah.
    Sie hielt sie für ein Trugbild. Welche Rechtfertigung konnte es sonst geben? Den Blick zur Saaldecke zu heben, ihn ins Unendliche zu richten und sich ein wenig Ruhe zu verschaffen, war für sie eine einfache Übung. Aber einen Engel vorbeifliegen zu sehen, einen echten, in Menschengestalt, mit zwei großen weiß gefiederten Flügeln, die sich langsam auf und ab bewegten, fast wie in Zeitlupe, das war ein Phänomen, das sie sich nicht erklären konnte.
    Eine Erscheinung also. Na prima, jetzt fing sie auch noch an zu halluzinieren. Entweder das, oder sie hauchte gerade ihr Leben aus, und die erste Stufe war die Begegnung mit Engeln.
    Dieser Gedanke beunruhigte sie dann doch ein bisschen, aber ihren Eltern sagte sie lieber nichts. Stattdessen setzte sie ein etwas dämliches Lächeln auf und gab ihnen ein paar Küsse zurück, die sie noch in Reserve hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie weiterhin die Saaldecke.
    Die Erscheinung hielt noch einen Wimpernschlag lang an. Dann löste sich die Engelsgestalt (eine Frau, noch dazu eine sehr junge!) einfach auf. Auf der großen Saaldecke blieben nur die LED-Lampen zurück, die einem in den Augen wehtaten, wenn man direkt hineinschaute.
    Der Moderator der Veranstaltung kam auf sie zu und hielt ihr ein Mikro direkt vor die Nase. »Herzlichen Glückwunsch, Señorita! Ihnen ist es zu verdanken, dass Ihr Team den Pokal der Hochbegabten mit nach Hause nehmen darf«, sagte er mit einem affektierten Lächeln. »Macht Sie das stolz?«
    »Äh … ja, ich glaube schon«, antwortete sie und versuchte, sich den lästigen Plastikstängel aus dem Gesicht zu wischen.
    »Wie wird dieser Erfolg die Verdienste Ihres Gymnasiums beeinflussen? Glauben Sie, dass der Pokal für Ihren Lebensweg von Bedeutung ist?«
    »Ich glaube, dass er mir bei der Universitätswahl helfen wird.«
    »Ah, da haben Sie’s, meine sehr verehrten Zuschauer, sogar die Püppchen gehen heute an die Uni!«
    Der Moderator witzelte noch eine Weile weiter über Püppchen und Pokale, während Tanya ihre Eltern vor sich her aus der Menschenmasse schob. Als sie endlich ein wenig Platz für sich hatten, sagte sie auf Russisch: »Bitte, Papa, ich will nach Hause.«
    Ihr Vater nickte verständnisvoll. Er hatte sofort begriffen, was los war. Er verspürte gegenüber seiner Tochter eine gewisse empathische Verbundenheit, einen Draht, wenn man so will, den fast alle Eltern zu ihren Kindern haben, solange diese noch ganz klein sind. Er aber hatte es irgendwie geschafft, diese Verbindung aufrechtzuerhalten.
    Er setzte seinen grimmigen Emigrantenblick auf, der die Leute immer so erschreckte, als hätte er das Zeug zum Straftäter, und bahnte sich einen Weg zum Ausgang. Frau und Tochter zuckelten wie Waggons hinter ihm her.
    Deshalb mochte Tanya ihre Eltern so. Von ihnen fühlte sie sich verstanden. Von den meisten anderen Leuten nicht.
    Auf dem Weg nach draußen warf sie noch einen kurzen Blick in den Gang neben der Bühne, der hinter die Kulissen führte. Sie glaubte wieder die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, dort, wo vorher der pädagogische Leiter gestanden hatte. Aber es konnte unmöglich er sein. Völlig ausgeschlossen. Die Gestalt wurde nämlich gerade wie eine Flagge gehisst. Es musste sich um ein Kleiderbündel handeln, einen Sandsack oder etwas in der Art.
    Niemand würde einen Mann auf so brutale Weise an einem Seil hinaufziehen, außer vielleicht einen Toten.
    Séfora flog durch den geräumigen Saal und setzte sich wie ein riesiger Vogel auf die Verzierungen an der Saaldecke, hinter denen sich die
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