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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Autoren: Víctor Conde
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gespielt hatte: Es war tatsächlich jemand da, bestimmt ein Bühnenarbeiter oder Beleuchtungstechniker, der seiner Arbeit nachging. Er hockte oben auf dem Balken, von dem der schwere Vorhangstoff herunterhing. Sonderbar war, dass er mühelos die Balance halten konnte, ohne sich an der Kette festzuhalten.
    »Guten Abend! Bitte entschuldigen Sie die Störung«, wandte sich Velasco an die Gestalt über ihm, die ihn nur schweigend ansah. Etwas an ihrer Erscheinung war ihm zunehmend unheimlich, wenn er auch nicht genau wusste, was. »Ich hatte nur etwas gehört und wollte nachsehen, ob … na ja, ob alles in Ordnung ist, Sie wissen schon.«
    Die Gestalt verharrte schweigend. Seine Augen absorbierten auch noch den letzten schwachen Schein der Bühnenbeleuchtung.
    Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er immer mehr Details des ovalen Gesichts: Es hatte keine Backenknochen, und die Haut war von Rissen durchzogen, als wäre es einmal Opfer eines Brandes gewesen. Die großen irisierenden, nicht ganz runden Pupillen erinnerten an die einer Eule. Und da, wo eigentlich die Ohren hätten sein müssen, befanden sich nur zwei wulstige Narben.
    »Also, äh … ich muss jetzt wieder zu meinen Schülern. Die Eltern wollen bestimmt ein paar Fotos machen, und … und ich … es ist schließlich meine Pflicht …«
    Er ging langsam rückwärts, als die Bestie plötzlich ihren Kopf nach unten neigte. Zu Velascos großem Entsetzen war die Geste absolut unmenschlich, ja, sie war nicht zu definieren. Tatsächlich schien es, als wäre ihr Schädel anstatt durch Wirbel nur durch einen sehr dünnen Faden mit dem Rest des Körpers verbunden.
    Die Kreatur stieß einen zischenden Laut aus.
    »Heiliger Strohsack«, stotterte Velasco und rannte auf den schmalen Lichtstreifen zu, der das Ende der Kulisse und den Beginn der Vorbühne markierte. Nur noch wenige Meter trennten ihn von den anderen, nur ein paar große Schritte noch, dann wäre er wieder im hell erleuchteten Saal, inmitten des Trubels, umgeben von Kameras – in Sicherheit.
    Zu seinem Unglück konnten wenige Meter endlos sein, sobald man auf der Flucht vor einer dieser Kreaturen war.
    Tanya glaubte aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich etwas hinter den Kulissen bewegte, aber sie beachtete es nicht weiter.
    Ihre Eltern waren auf die Bühne gekommen, um ihr zu gratulieren. Sie umarmten sie und flüsterten ihr zärtliche Worte auf Russisch zu, während sich die Kameras auf den Stativen herumdrehten, um sie besser ins Bild zu bekommen.
    Es war ein berauschendes Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, berühmt zu sein. Aber ein bisschen unangenehm war es ihr auch. Eigentlich war sie nicht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit, auch wenn ihre Kleidung vielleicht das Gegenteil vermuten ließ. Wie allen anderen, die sie aus der Szene kannte, ging es ihr weniger darum aufzufallen als darum, für die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Eigenheiten, ihrer Individualität zu kämpfen. Sie wünschte sich, dass die Leute sie wegen der Gefühle und der Schönheit, die sie ausstrahlte, ansahen, nicht weil sie sich von ihrer Erscheinung angegriffen fühlten.
    Das Wissen, dass ihr praktisch immer jemand hinterherstarrte, hatte auch einen positiven Nebeneffekt: die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Diese Eigenschaft hatte sie während der letzten fünf Jahre ausgebildet, seit sie zum ersten Mal in die Welt der Lolitas eingetaucht war, und sie wusste sie nach wie vor sehr zu schätzen. Wenn man weiß, dass man unter ständiger Beobachtung steht, lernt man die Außenwelt einfach zu ignorieren, einen Panzer der Ruhe und Konzentration aufzubauen, der einen von seiner Umgebung abschirmt. Es gibt Leute, die nicht einmal einen Text laut vorlesen können, wenn sie wissen, dass ihnen jemand dabei zusieht. Das war bei Tanya nicht so. Sie konnte die Welt um sich herum einfach ausschalten und sich auf das konzentrieren, was sie gerade tat.
    Plötzlich fühlte sie sich unsäglich erschöpft. Die heitere Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, begann sich in ihrem Kopf abzulagern. Das Blitzlichtgewitter der Kameras, die Mikrofone überall, die schwitzenden Hände, die ihr anerkennend auf den Rücken schlugen – manche so überschwänglich, dass es ihr wehtat –, die ungestümen Küsse ihrer Eltern, die große Teile ihres Make-ups einfach mit sich fortrissen, all das prasselte jetzt mit voller Wucht auf sie ein.
    Als Panik in ihr hochstieg, legte Tanya einfach den Hebel um. Sie richtete den
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