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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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wurde. Nur noch selten verließ er sein Viertel. Selbst auf dem Weg ins Fitnesscenter oder zur Eisdiele kam es zum Streit. Mit jedem. Wenn ihn jemand flüchtig ansah, war alles zu spät. Er verstand das als Provokation. Für ihn kam das einer miesen Beleidigung gleich. Er fühlte sich herausgefordert. Dann ging es los. Zickzack! Der einst so ängstliche Fritz hatte sich in einen brutalen Schläger ohne Hemmungen verwandelt. Wenn es zu einer Streiterei kam, griff er nach allem, was er in die Finger bekam. Außerdem hatte er immer ein langes Küchenmesser dabei, in Zeitungspapier eingewickelt. Er trug es unter seiner Bomberjacke, in seinem Hosenbund. Auf die Straße zu gehen, das bedeutete für ihn, in den Krieg ziehen.
    Fritz kiffte bereits morgens. Seine Eltern hatten ihm eine kleine Wohnung besorgt, denn sie konnten es nicht mehr ertragen, hilflos dabei zuzusehen, wie sich ihr Sohn allmählich zugrunde richtete. Sie schienen zu glauben, dass es helfen würde, wenn er nur erst merken würde, dass er auf sich allein gestellt war. Doch Fritz kokste und trank immer mehr. Ohne Rausch ging es nicht mehr. Je mehr Fritz auf Drogen war, desto weiter entfernten wir uns voneinander. Ich hatte keinen Einfluss mehr auf ihn. Die Drogen hatten ihn fest in ihrem teuflischen Griff. Er sah in jedem einen Feind. Auch ich hatte immer öfter Stress mit ihm. Es war ein Wunder, dass wir uns nicht prügelten, er nicht auf mich losging. Es war vielleicht die einzige Grenze, die er noch wahrnahm. Noch gab es diese Brücke zwischen uns, die aus gemeinsamen Erinnerungen und Sentimentalität gebaut ist.
    Der Laden war voll. Das Testosteron allgegenwärtig. Es machte die verrauchte Luft dick und schwer, so dass jeder wusste: hier bewegst du dich am besten langsam und vorsichtig. Jede Bewegung wird beobachtet und könnte eine Bombe zum Explodieren bringen. Es war die Zeit, in der sich immer mehr Kurzhaarige auf dem Kiez breitmachten. Kurze Haare, Stiernacken, massige Körper, brutale Fressen. Das hat uns aber nie interessiert. Wenn es nun knallte, dann knallte es richtig. Es wurden Aschenbecher als Meinungsverstärker eingesetzt. Oder Messer. Ein Messer geht rein wie in Butter. Egal, wie muskulös der Gegner ist. Das wusste ich, seitdem ich meinem Nachbarn mal ein Messer in den Arm gesteckt hatte, weil er mich angeschwult hatte. Es war kein Widerstand zu spüren, als ich es in sein Fleisch rammte. Rein, raus, fertig die Maus. Auch ich bewegte mich von Zeit zu Zeit am Rande des Kontrollverlusts. Und mein Nachbar hat mich nie wieder gegrüßt.
    Die Stiernacken wollten an diesem Abend die Kneipe als ihr Territorium markieren. Ihre Augen glühten wie kleine Feuer im schummrigen Licht. Sie suchten Streit. Einer der Stiernacken, ein massiger Typ mit ungefähr hundertzehn Kilo auf den Rippen, hatte seinen Blick auf Fritz gerichtet. Was nun kam, kannte ich. Aber diesmal würde ich nicht dazwischengehen. Diesmal nicht. Ich sah, wie sich der Typ mit entschlossenem Blick auf Fritz zubewegte, als ihn eine Hand zurückhielt.
    »Hey«, rief ein anderer Glatzkopf, »das ist Fritz. Der ist cool.«
    Das Schauspiel schien vorbei, noch ehe es angefangen hatte. Aber Fritz nutzte die Gunst der Stunde und verpasste dem Stiernacken einen Kinnhaken und schmiss ihn anschließend über die Theke. Meine guten Vorsätze waren schnell vergessen, ich handelte intuitiv. Ich stieß den zweiten Stiernacken zur Seite und hielt ihn im Neckbreaker, mit aller Kraft. Fritz sprang hinter den Tresen und hockte nun auf dem Rücken des riesigen Glatzkopfes, der ohnmächtig dalag. Dann nahm Fritz eine Bierflasche, zerschlug sie am Tresen. Fritz holte aus, in aller Ruhe. Die kaputte Flasche sauste wie ein Messer auf den Nacken des Typen zu und grub sich mit ihren scharfen Zacken ins Fleisch. Fritz packte sich die nächste Bierflasche, zerschlug sie am Tresen und stach wieder zu. Er war vollkommen im Rausch.
    Plötzlich spürte ich, wie mein Gegner erschlaffte. Ich ließ seinen ohnmächtigen Körper zu Boden fallen. Der ganze Laden war still. Als hätte jemand die Pausentaste gedrückt. Fritz saß wie ein Jäger über seiner Beute, die kaputte Flasche immer noch in der Hand, alles war voller Blut. Ich musste raus. Ich rannte in die Nacht, kalte Luft schlug mir entgegen. Ich fühlte mich dumpf. Ich lief. Wo war Fritz? Ich wusste es nicht. Ich war einfach abgehauen. Ich war davongelaufen. Vor Fritz und vor mir selbst. Panik ergriff mich. Mein Puls ratterte. Meine Atmung lief auf Hochtouren.
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