Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
Vom Netzwerk:
Judo-Nationalmannschaft beim Training für eine Weltmeisterschaft, fünf- oder sechsundsechzig sei das gewesen. Anton Geesink, mitkämpfender Nationaltrainer, hatte seine Mannschaft in der Nähe von Marseille in den Wald geschickt, laut Sigerius war er ein Schinder, doch sowie Stämme bergauf geschleppt werden sollten, machte er in vorderster Reihe mit. Oben angekommen, wenn alle auf dem letzten Loch pfiffen, packte er den Stamm an einem Ende und stemmte ihn zitternd ein Dutzend Mal, riss sich die Klamotten vom dampfenden Körper und sprang in einen Gebirgsbach. «Wenn wir ihm danach eine Flasche Wasser gereicht haben, lehnte er ab, weil er fand, es sei schade um seinen Durst», sagte Sigerius, der sehr bald dahinterkam, dass Aaron bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr Judo gemacht hatte, und sobald er erfuhr, dass Aaron sogar den Schwarzen Gürtel besaß, brachte er ihn dazu, wieder anzufangen, als Mitglied der Seniorengruppe, die er donnerstagabends im Sportzentrum auf dem Campus leitete, und als Aaron nach einem halben Jahr «wieder drin» war, fragte er ihn, ob er nicht Lust habe, zusammen mit ihm für die Dan-Prüfung zu trainieren.
    Judo ist ein merkwürdig intimer Sport. Mindestens zwei Jahre lang lagen er und Sigerius einander ein paarmal pro Woche auf der Judomatte in den Armen, intensive, konzentrierte Stunden, in denen sie die Turnhalle für sich allein hatten, geredet wurde kaum. Ein Jahr hatten sie sich gegeben, um an ihren Würfen und der Bodentechnik zu feilen, Sigerius für seinen vierten Dan, er selbst für seinen zweiten. Jedes Training beendeten sie mit todernsten Kämpfen, an die er sogar jetzt noch oft zurückdachte. Und nach jedem Training kroch er ins Bett zu Joni, dem mit aller Fürsorge der Welt erzogenen Augapfel von Sigerius, manchmal im Gästezimmer von dessen Bauernhaus, und dann merkte Aaron, dass Joni entfernt nach ihrem Vater roch, vielleicht wegen des Waschmittels, das Tineke benutzte, er wusste es nicht. Und während er Pheromone mischte – er war ein Überbringer von Körpergerüchen, eine Hummel, die zwischen zwei Körpern derselben Marke pendelte –, spürte er, wie sich sein sonderbares Glück beim behutsamen Vögeln nach dem Training verdoppelte, ihrer beider gedämpftes Stöhnen in Sigerius’ Gästebett, seine Hand manchmal fest auf Jonis warmem Mund, damit er seinen unglaublichen Freund ein Stockwerk tiefer nicht weckte.
     
    Sie fuhren durch Löwen. Tineke hatte die Augen geschlossen, sie tat, als schliefe sie, sodass sie füreinander nicht länger existieren mussten. Er bewunderte ihre Kaltblütigkeit. Seit November 2000, dem Jahr, als alles in die Luft geflogen war, hatte er kein Mitglied der Familie Sigerius mehr gesehen. Trotzdem schwirrten sie hartnäckig durch sein Unterbewusstsein, trotzdem träumte er immer wieder von Enschede, und meistens waren es Albträume.
    Es begann zu dämmern, das Licht war purpurfarben, silbrig an den Rändern der schlierigen Wolken, im Spiegelbild der Fensterscheibe sah er seinen kahlen Schädel. Er spürte, dass er ruhiger wurde und betrübt. Ein Kaff entrollte sich entlang eines Kanals, ein magerer Mond stand rätselhaft früh am Himmel. Nachher die schimmelige Dunkelheit von Linkebeek, durch die er zu seinem leeren Haus gehen würde. Die Öde, die ihn dort erwartete, die hohen kalten Zimmer, nach denen er sich in Venlo noch so gesehnt hatte. Er dankte dem Schicksal, dass es Tineke war, die dort saß und ihn ignorierte, und nicht Sigerius selbst.
    Vollkommen gelöst hatte er sich nie gefühlt. Er konnte in Sigerius’ Beisein erstarren, buchstäblich, konnte gewissermaßen dramatisch versteinern: Dann verkrampften sich seine Kiefer und erzeugten eine kaum kontrollierbare körperliche Spannung, die sich über seine Nackenwirbel und Schultern auf den ganzen Körper ausbreitete. Stundenlang kämpfte er als Standbild seiner selbst gegen das vollkommene Gefrieren an, während er verzweifelt weiterredete und gleichzeitig darum flehte, dass seine Stimme nicht versagte. Wenn Sigerius ihn in einem solchen Moment umgeworfen hätte, wäre er wie eine chinesische Vase in tausend Stücke zersprungen.
    Er empfand ihre Freundschaft als magisch – bevor er auf den Campus gekommen war, um dort Fotografie zu studieren, war er als Niederländisch-Student in Utrecht gescheitert, chancenlos gescheitert, seine eigene Universitätsstadt hatte ihn abgestoßen, und hier drang er einfach so bis ins Innerste des akademischen Herzens vor? –, aber auch als eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher