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Böse Sterne

Titel: Böse Sterne
Autoren: Dietmar Bittrich
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Immerhin konnten Sie unerkannt durch
     die Schule rutschen, mit unauffälligen Noten, immer als purer Durchschnitt, weil bei der Zeugnisvergabe niemand wusste, was
     Sie gesagt oder geschrieben hatten und ob überhaupt. Sie sind häufig zu spät gekommen, auch das hat niemand bemerkt.
    Einer berühmten Untersuchung zufolge tauchen Fische in Anwesenheitslisten – von Versammlungen, Sitzungen, Meetings – von allen
     Sternzeichen am seltensten auf. Nicht, weil sie so selten dabei sind, sondern weil ihre Anwesenheit unweigerlich übersehen
     wird. Fische, glaubten die Astrologen des Mittelalters, hätten die Fähigkeit sich unsichtbar zu machen. Umgekehrt stimmt es
     wohl eher: Sie schaffen es nicht, sich sichtbar zu machen.
    Wir aber, wir übersehen Sie nicht. So ausdruckslos Sie sein mögen. So schwammig Ihre Präsenz auch wirkt. Wir lieben Ihr Fluidum,
     das Ihren eigenen nebligen Aquarellen gleicht. Sie wirken verschwommen und zerlaufen. An manchen Tagen sogar aufgedunsen.
     Das liegt an den |149| Flüssigkeiten, die Sie am Abend zuvor genossen haben. Sie fühlen sich gern eins mit allem, und das funktioniert am besten,
     wenn Sie die gesetzliche Promillegrenze großzügig hinter sich lassen.
    Durchsichtig, wie einige alte Sterndeuter meinten, sind Sie nicht. Eher undurchsichtig. Sie sind die wandelnde Verschleierung.
     Sie passen sich an bis zum Verschwinden, doch das Motiv ist keine Demut, sondern Ihre heimliche Neigung, alle anderen zu manipulieren.
     Leider gelingt Ihnen das häufig. Gerade, weil man Ihrer versponnenen Unauffälligkeit kein Tricksen zutraut. Und natürlich
     manipulieren Sie nicht offen, sondern hinter einer Fassade aus Mitleid und Güte. Das gerade ist das Abgefeimte! Man kann Ihr
     Taktieren nur spüren, Sie aber nie dabei ertappen. Es geschieht nicht geplant, sondern intuitiv.
    Ausgerechnet Ihre Begabung, verborgene Wünsche und Befürchtungen von anderen zu spüren, nutzen Sie, um diese arglosen anderen
     zu lenken. So bekommen Sie verblüffend oft, was Sie wollen. Sie mimen Unschuld, Schwäche, Hilflosigkeit. Wenn es sein muss,
     kränkeln Sie. Wir sollen den Eindruck bekommen, Sie seien empfindsames Opfer einer grobianischen Welt. Armes Wesen!, sagen
     wir, was können wir, dürfen wir tun?
    Und schon kümmern wir uns um Sie. So absurd es sein mag, wenn wir eine Weile mit Ihnen zusammensitzen, fühlen wir uns schuldig.
     Vor allem, wenn Sie aus unbekanntem Grund verstummen. Haben wir etwas Falsches |150| gesagt? Oder etwas Richtiges gesagt, was Sie nicht hören wollten? Haben wir Sie unsensibel behandelt, nicht ausreichend gewürdigt?
    Sie lächeln fein. Aber wir sind befangen. Sie rücken nicht raus mit der Sprache. Ein uralter Schmerz ziert Ihr Gesicht.
     Das ist gekonnt gemacht! Wir fühlen uns gedrängt, Abbitte zu leisten, obwohl wir nicht wissen wofür. Wir meinen, wir müssten
     irgendetwas zum Ausgleich tun, Ihnen wenigstens eine tröstliche Flasche Wein schenken. Lieber eine Kiste? Na gut.
    Sie wirken auf edle Art müde, als niste ein heiliges Fieber in Ihnen. Vielleicht sind Sie auch nur erschöpft von all den aufreibenden
     Inkarnationen, die Sie hinter sich haben. Und nun kommen wir nassforsche Dummschädel, die wir Ihnen die feinstoffliche Energie
     absaugen. Sollen wir Sie lieber allein lassen? Hallo?
    Keine Auskunft. Sie sind nicht zu packen. Sie werden nicht deutlich. Sie werden nie laut. Sie werden nie klar. Jeglicher Konfrontation
     ausweichend, verharren Sie in stillem Vorwurf. Ach, wie wir das lieben! Dieses wortlose Ausdünsten von uraltem Kummer und
     ewigem Unverstandensein.
    Bisweilen sind Sie verblüffend redselig, besonders am Telefon. Dann schwadronieren Sie völlig strukturlos, als rinne Ihnen
     die Sprache aus den Mundwinkeln. Und plötzlich, wegen eines unserer unsensiblen Scherze, verstummen Sie. Im Äther hängt ein
     schmerzvolles Lächeln.
    |151| Wir lieben dieses Spiel. Und Sie können ohne es nicht leben. Unverstanden zu sein, ist wichtigster Bestandteil Ihrer Identität.
     Verletzt zu werden, gehört zur Rolle des Opfers, die Sie hingebungsvoll spielen. Bleiben Sie so! Passiv, schlaff, leidend.
     Lassen Sie das Leben so wegleiern. Wir besorgen den Wein.
     
    Ihr sicherer Weg zum Liebeskummer
    Das Mariechen, das weinend im Garten saß, das war ein Fisch. Und der Tristan, der sich sehnend auf einsamer Insel verzehrte,
     die Hütte ganz nah am Wasser gebaut, das war ebenfalls ein Fisch. Tränen vergießen und den Schmerz und die Sehnsucht auskosten:
    
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