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Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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zu. Iwan Ossipowitsch holte weit aus, sprach beinahe flüsternd, verlor aber immer wieder ein wenig den Faden. Nicolas wirkte sehr mürrisch, durchaus nicht wie ein Verwandter, war bleich, blickte zu Boden und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, als unterdrücke er einen heftigen Schmerz.
    »Sie haben ein gutes Herz, Nicolas, ein edles Herz«, flocht der alte Herr unter anderem ein, »Sie sind ein Mann von feinster Bildung, Sie haben in den besten Kreisen verkehrt, und auch hier war Ihr Benehmen bislang mustergültig, wodurch Sie das Herz Ihrer uns allen so teuren Frau Mutter erquickten … Und nun erscheint alles einmal wieder in einem solch rätselhaften und alle gefährdenden Kolorit! Ich spreche zu Ihnen als Freund Ihres Hauses, als ein Sie aufrichtig liebender älterer und Ihnen nahestehender Mensch, dem Sie nichts übelnehmen dürfen … Sagen Sie, was veranlaßt Sie zu solchen ungezügelten Handlungen, die außerhalb aller Konventionen liegen und jedes Maß überschreiten? Was bedeuten diese Streiche, als ob Sie nicht bei Sinnen wären?«
    Nicolas hörte verdrossen und ungeduldig zu. Plötzlich blitzte etwas Tückisches und Spöttisches in seinen Augen auf. »Nun, meinetwegen, dann will ich Ihnen sagen, was mich dazu veranlaßt«, sagte er finster, blickte um sich und neigte sich zu Iwan Ossipowitschs Ohr. Der wohlerzogene Aljoscha Teljatnikow zog sich drei Schritte weiter zurück, zum Fenster, und der Oberst räusperte sich hinter seinem »Golos«. Der arme Iwan Ossipowitsch hielt sogleich vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst neugierig. Und da geschah etwas völlig Unmögliches, aber gleichzeitig in gewisser Hinsicht nur allzu Eindeutiges. Der alte Herr spürte plötzlich, daß Nicolas, statt ihm ein interessantes Geheimnis zuzuflüstern, den oberen Rand seines Ohres zwischen die Zähne nahm und ziemlich kräftig zubiß. Sein Atem stockte, und er begann zu zittern.
    »Nicolas, was sind das für Scherze«, stöhnte er mechanisch mit veränderter Stimme.
    Aljoscha und der Oberst begriffen noch nicht, was vorging. Sie konnten nicht genug sehen und glaubten immer noch, daß die beiden miteinander flüsterten, aber sie beunruhigte das verzweifelte Gesicht des alten Mannes. Mit aufgerissenen Augen starrten sie einander an und wußten nicht, ob sie verabredungsgemäß zu Hilfe eilen oder abwarten sollten. Nicolas bemerkte das wohl und biß noch kräftiger zu.
    »Nicolas, Nicolas«, stöhnte das Opfer erneut. »Sie scherzen, aber nun ist es genug …«
    Im nächsten Augenblick wäre der Arme ganz sicher vor Schreck tot umgefallen; aber der Unmensch erbarmte sich seiner und ließ das Ohr los. Wohl eine ganze Minute lang hatte der alte Mann in Todesängsten geschwebt, und gleich darauf erlitt er eine Art Anfall. Aber eine halbe Stunde später wurde Nicolas verhaftet und zunächst in die Hauptwache eingeliefert, wo man ihn in eine besondere Zelle einschloß, mit einem besonderen Posten vor der Tür. Es war eine harte Maßnahme, aber unser weichherziges Gouvernementsoberhaupt war dermaßen erzürnt, daß er bereit war, sogar vor Warwara Petrowna die Verantwortung auf sich zu nehmen. Zum allgemeinen Erstaunen wurde diese Dame, die unverzüglich und höchst aufgebracht zum Gouverneur eilte, um auf der Stelle Erklärungen zu verlangen, schon bei der Auffahrt abgewiesen; sie mußte, ohne aus dem Wagen zu steigen, unverrichteter Dinge umkehren und nach Hause fahren; sie wußte nicht, wie ihr geschah.
    Und dann klärte sich endlich alles auf! Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als der Arrestant, der sich bis dahin erstaunlich ruhig verhalten und sogar geschlafen hatte, zu toben anfing, mit den Fäusten wie besessen gegen die Tür trommelte, mit übermenschlicher Kraft das eiserne Gitter vor dem Guckloch in der Tür abriß, die Scheibe einschlug und sich dabei beide Hände zerschnitt. Als der wachhabende Offizier mit dem Kommando und den Schlüsseln herbeieilte und befahl, die Zelle aufzuschließen, den Rasenden zu überwältigen und zu fesseln, stellte sich heraus, daß er hohes Fieber hatte und nicht bei sich war; er wurde nach Hause zu seiner Mutter überführt. Mit einem Schlag klärte sich alles auf. Unsere drei Ärzte sprachen sich übereinstimmend dahingehend aus, daß der Patient auch schon drei Tage vorher unter Fieberphantasien hätte leiden können und, wie sich gezeigt hätte, zwar intelligent und tückisch, aber nicht mehr im vollen Besitz des gesunden Menschenverstandes und Willens gewesen wäre,
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