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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind
Autoren: Jakob Melander
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stellte den Ton leise. Eine dieser Heimwerker-Sendungen. Ein Schauspieler half einem Buchhalter, eine überdachte Terrasse für sein Reihenhaus zu bauen. Lars verschränkte die Hände im Nacken und wippte auf dem Stuhl.
    Wieso hatte der Täter ihre Augen entfernt? Hatte sie etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte? Was sie nicht sehen durfte?
    Er blies einen ausgefransten Rauchring an die Decke.
    In der Wohnung über ihm tat es einen gewaltigen Schlag, gefolgt von lautstarkem Fluchen.
    Noch zwei Monate in diesem Vakuum, dann war er weg.

Mai 1953
    Er saß auf dem Sofa, seit Großvater und die Männer ihn am Abend zuvor aus dem Wald geholt hatten. Am Morgen hatte der Großvater einen kurzen Blick auf ihn geworfen. Dann hatte er sich seine Arzttasche gegriffen und war zu seinen Krankenbesuchen aufgebrochen. Mutter starrt in ihrem Schaukelstuhl in die Luft. Wie immer.
    Krii krii, krii krii, Mutter schaukelt hin und her. Er steht auf und streichelt ihr über die porzellanblasse Wange. Die schlaffe Haut bebt, entzieht sich seinen Fingern.
    Sie muss sich stärken. Er zieht die Jacke an, geht in die Küche. Gießt Wasser in einen Topf und macht Feuer in dem alten gusseisernen Ofen. Heißer Saft. Aus den Tassen mit den englischen Motiven, die zu benutzen Großvater ihnen verboten hat.
    Auf dem Weg in den Keller schaut er zu Mutter hinein. Sie sitzt da, wie er sie verlassen hat, mit versteinerter Miene, die Hände im Schoß gefaltet. Der Schaukelstuhl in der leeren Stube. Sonnenlicht fällt durchs Fenster, Rechtecke und Quadrate auf den breiten Bodendielen. Der Staub tanzt im Licht. Er läuft in den Keller, bemüht sich, den ganzen Krempel, den Großvater im Keller aufbewahrt, zu ignorieren. Findet die Tasse und die Untertasse in der Vitrine.
    Rennt die Treppen hinauf. Die Stimmen vermeiden.
    In der Küche kocht das Wasser. Er füllt die Tassen zur Hälfte mit Ribena, dem Schwarze-Johannisbeeren-Saft, und gießt ihn mit Wasser auf. Zerbröselt einen Zwieback in der dicken Saftmischung. Er hat den Teelöffel bereits in der Hand, als er die Scharte in der Untertasse bemerkt. Am Rand ist ein Splitter herausgeschlagen, der Sprung breitet sich aus, zieht sich durch die Glasur. Ein plötzlicher Wutanfall steigt in ihm auf. Heute hat alles perfekt zu sein. Er stößt die Tasse von der Untertasse. Saft und Zwieback-Krümel schwappen über den Küchentisch. Die Untertasse landet in der Spüle, zersplittert. Zerschlagenes Porzellan klirrt im Ausguss.
    Noch einmal muss er in den Keller, muss sich in seinen Knickerbockers an Großvaters Sachen vorbeidrücken.
    Unten an der Treppe steht die Tür der Vitrine offen. Hatte er sie vorhin geschlossen? Aus dem Wohnzimmer dringt das monotone Knirschen des Schaukelstuhls. Er greift nach der letzten Untertasse, seine Finger schließen sich um das Porzellan und streifen dabei einen Nagel, der ganz hinten in der Ecke herausragt. Mit einem leisen Klicken versinkt der Nagel, und die Vitrine dreht sich auf ihn zu. Dahinter ein schwarzes Loch in der Wand. Abgestandene Luft strömt ihm entgegen, Verwesung und Chemikalien.
    Er findet einen Kerzenstummel im Regal neben dem Schrank, zündet ihn an. Die Dunkelheit ist so groß, dass sie die Strahlen der Flamme verschluckt. Vorsichtig setzt er einen Fuß auf einen der Regalböden, steigt hinauf. Durch die Öffnung in der Wand sieht er die obersten Stufen einer Treppe unter sich.
    Fünfzehn Stufen zählt er, bevor er sich auf die Treppe wagt und sich mit dem Kerzenstummel vortastet, den er wie einen Schild vor sich trägt. Unstete Formen tanzen auf der Grenze des Lichtkreises, erwachen mit jedem Flickflack, den die Flamme schlägt, zum Leben. An den Wänden Regale, Schachteln und Kisten mit Zetteln und aufgemalten Bezeichnungen: Cyclotol, Husqvarna, Composition B . Andere, die er nicht kennt. Hirtenberger 5,6 x 50 Mag.
    Die Regale ragen über ihm auf. Er hebt den Kerzenstummel über den Kopf. Das Licht spiegelt sich in einem Glas auf einem der Regalböden: zwei blassweiße verschwommene Kugeln mit grauen Pupillen schweben in einer trüben Flüssigkeit. Muskelgewebe, hinter dem ausgefaserte Sehnen wie Schleier schweben. Reste aus Großvaters Praxis? Sein Herz überschlägt sich, er schnappt nach Luft. Der Kerzenstummel fällt zu Boden, erlischt, rollt weg. Er geht auf die Knie und tastet mit zitternden Händen über den Boden.
    Dann fallen die Stimmen aus dem Wald über ihn her. Stürzen sich auf ihn in einer langsam kreisenden Kadenz.
    Als er aus dem Keller
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