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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder
Autoren: Sam Hayes
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Rasch und unauffällig löschte sie James Hammonds E-Mail und schaltete den Computer ab. Mit einem Seufzer ging das Gerät aus.

36
    E
    s ist kalt und regnerisch, und ich muss die Tür festhalten, die der Wind mir aus der Hand zu reißen droht. Als ich drinnen meinen Schirm gegen die Wand lehne, schießt mir durch den Kopf, dass ich ihn wohl vergessen werde. Ich lächle bei der Erinnerung daran, wie Robert und ich uns kennengelernt haben – durch einen liegengebliebenen Schirm. Dann blicke ich mich im Café um, weil ich wissen will, ob sie schon da ist.
    Zwischen den Köpfen der zahlreichen Gäste reckt sich ein Arm in die Höhe. Er gehört Louisa, die mich mit einem breiten Grinsen begrüßt.
    »Toll, dass du einen Tisch ergattert hast.« Ich ziehe den Mantel aus und hänge ihn über meine Stuhllehne. »Wird hier am Tisch serviert?«
    Sie nickt und winkt der jungen Kellnerin, die gleich darauf neben uns steht und meine Bestellung aufnimmt.
    »Wie ist es gelaufen?« Louisas grüne Augen unter den grau geschminkten Lidern blitzen erwartungsfroh.
    »O Mann«, antworte ich. »Wo soll ich da anfangen?« Ich lasse sie ein bisschen schmoren und trinke erst einmal einen Schluck Kaffee.
    Sie wartet.
    »Schau mal.« Ich ziehe ein kleines Album mit etwa einem Dutzend Fotos aus meiner Handtasche und reiche es ihr. Ausgiebig betrachtet Louisa jedes Bild, registriert jedes Detail. Genauso, wie ich es hundertmal am Tag tue.
    »Sie hat deine Augen«, sagt Louisa. »Und deine Nase auch und den Mund und –«
    »Sie ist einfach wunderschön«, falle ich ihr ins Wort. Ich weiß, wie eingebildet das klingt.
    »Hast du es ihr gesagt?«
    Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und schlage die Beine übereinander.
    »Ich habe gar nicht mit ihr gesprochen.«
    »Hat ja auch keine Eile«, sagt Louisa.
    Stimmt. Das hat jetzt keine Eile mehr.

    Es dauerte mehrere Monate, bis wieder Normalität eingekehrt war. Wenn man allerdings nie Normalität erlebt hat, kann man eigentlich gar nicht genau wissen, ob sie herrscht oder nicht.
    Robert traf jedenfalls eine wichtige berufliche Entscheidung. Er spezialisierte sich auf Kinderrechte und trat von nun an unermüdlich für Minderjährige ein, die sonst keinen Fürsprecher hatten. Alles habe mit zwei Kindern, Alice und Joe Bowman, begonnen, sagte er. Er half ihnen, sich von ihren Eltern zu lösen, die in Dauerfehde miteinander lagen. Zurzeit befinden sich die Kinder, glaube ich, in einer Pflegefamilie, bis sie sich entschieden haben, wo sie leben wollen. Rob sagt, sie lernen gerade, dass Glück auch etwas mit Verzeihen zu tun hat. Das lernt er selbst wohl auch im Moment.
    Ein weiterer Grund für Robs berufliche Neuorientierung war meine Geschichte. Das behauptete er wenigstens eines Abends im Bett, etwa eine Woche, nachdem Ruby und ich von Brighton zurückgekommen waren. Die Situation war noch immer ein wenig heikel, daher fassten wir einander mit Samthandschuhen an. Robert musste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass mein Onkel mich als Kind missbraucht hatte und dass Ruby aus dieser Beziehung hervorgegangen war. Aber vielleicht hatte es ja auch sein Gutes, sagte ich zu ihm. So musste er wenigstens nicht mit einem leiblichen Vater wetteifern, den Ruby womöglich angehimmelt hätte. Ich sagte Robert nie, dass unsere Tochter keineswegs das Ergebnis von Gustaws Übergriffen war.
    »Wir werden darüber hinwegkommen«, sagte er und strich mir mit der Hand über den Bauch – wie ein Künstler, der einen Werkstoff begutachtet. »Wenn ich daran denke, wie schlecht ich mich während deiner Abwesenheit gefühlt habe, bin ich da ganz sicher.«
    »Aber gleichzeitig waren deine Gefühle an meiner Abwesenheit schuld.« Ich drehte mich auf die Seite, sodass seine Hand auf meiner Hüfte ruhte. Er sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Du reitest schlimmer auf der Wahrheit herum als jeder Anwalt.« Ich musste wegschauen. Es gab eine Wahrheit, die er nie erfahren würde. »Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, eine Barriere zwischen mir und den anderen Menschen zu errichten«, fuhr ich fort. »Das war mir schon zur zweiten Natur geworden, bis du kamst und die Schranke niedergerissen hast.« Hoffentlich verstand er, was ich damit sagen wollte. »Stell dir vor, wie jemand das Pflaster von einer Wunde abreißt und nicht nur ein wenig mit dem Finger an das rohe Fleisch tippt, bis der andere zusammenzuckt, sondern richtig zupackt und die Fingernägel hineingräbt.«
    Robert stieß einen erschrockenen Laut aus.
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