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Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser
Autoren: Jonas Torsten Krueger
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hoffen, dass aus dieser Mischung auch bei
ihm eine harte Kruste werden würde, eine Beton-Rüstung, die ihn schützte.
    Im Moment sah es aber nicht so aus.
    »Erzähl mir von deiner Familie«, sagte Anday. »Was macht dein
Vater?«
    »Der ist tot.«
    »Deine Mutter?«
    »Putzfrau.«
    »Na, na. Sie leitet den Reinigungsservice im Parlament * !«
    »Woher wissen Sie das?« Lázlo stierte den Psychologen an. Hatte der
schon eine dicke Akte über ihn, oder was?
    »Ich habe sie vorhin hier getroffen«, beschwichtigte Anday. »Du hast
noch geschlafen.« Er schob seine Brille auf der Nase hoch und stellte die nächste
Frage: »Geschwister?«
    »Nein.«
    »Du wohnst hier in Óbuda, richtig?«
    »Jaja. Sozialistische Plattenbauten * , soziales Getto, abgefuckte
Verlierer, Drogen, Elend, Prostitution. Das denken Sie doch, oder?«
    Doktor Anday lächelte. Immer noch. »Und du, Lázlo? Was denkst du?«
    Dass du wirklich ein Arsch bist, dachte Lázlo. Murmelnd antwortete er:
    »Sagt es niemand, nur den
Weisen,
    Weil die Menge gleich
verhöhnet:
    Das Lebendge will ich
preisen,
    Das nach Flammentod sich
sehnet.«
    Anday sagte nichts.
    »Goethe«, erklärte Lázlo. »Deutscher Dichter. Nicht ganz das, was Sie
von einem asozialen Plattenbaubewohner erwarten, nicht wahr?«
    »Was glaubst du«, lächelte Anday, »was ich erwarte?«
    Lázlo stöhnte auf und schloss die Augen. Immer noch dröhnte der
Betonmischer in seinem Herzen, immer noch wurden seine Gefühle hin- und hergerissen.
Er war müde. Er hatte das alles so satt. Nie hätte er gedacht, dass Erwachsenwerden
so anstrengend sein würde. Als sein Vater gestorben war, vor fünf Jahren, starb
Lázlos Kindheit gleich mit. Die Welt stürzte nicht ein, aber sie sackte in ein
tiefes Loch, aus dem er nie mehr herausgekommen war. Mama auch nicht. Und dann war
da die ewige Qual der Schule und sein zickender, tickender Körper, diese Sehnsucht
nach einem Mädchen, nach Sex, und endlich hatte er Irina gefunden, oder sie ihn, und
wieder verloren. Lázlo steckte tief in dem Loch, ahnte über sich einen blauen
Himmel. Aber er konnte ihn nicht erreichen.
    Immer noch hielt er die Augen geschlossen. Er spürte die Schmerzen an
seinen Handgelenken, im Bauch, im Hals; er merkte, dass seine Hände zu Fäusten
geballt waren. Und er hörte Arschgesicht Andays Stimme. Sie klang leiser und
stiller. Ohne hinzuschauen wusste Lázlo, dass der Psychologe endlich nicht mehr
lächelte.
    »Ich verstehe dich, Lázlo«, sagte der Doktor. »Wir glauben immer, dass
alles einen Sinn hat. Dann passiert eine Sache, die uns umhaut. Aber das schaffen
wir noch. Der zweite Schlag kommt und wir gehen in die Knie. Stehen aber wieder auf.
Verstehen nicht, aber glauben weiter. An ihn, an den Sinn. Meistens geschehen auch
wieder schöne Dinge. Verarzten uns. Heilen. Aber manchmal, Lázlo, sind die Schläge
so unbarmherzig und folgen so rasch aufeinander, dass wir es nicht mehr schaffen.
Plötzlich liegen wir im Dreck und werden ausgezählt. Wir verlieren. Manchmal schickt
uns Gott oder der Teufel Ereignisse wie Briefbomben. Jeden Tag Post. Aber wir können
sie nicht entschärfen, können sie nur aufmachen und zusehen, wie uns wieder und
wieder ein Stück unseres Lebens um die Ohren fliegt. Wir sind gefangen. Und suchen
nach der Schuld. Irgendjemand muss für all das bezahlen. Und wenn wir niemand
anderen finden …« Anday brach ab und schien zu warten.
    Lázlo tat ihm den Gefallen – er wusste, was der Typ hören wollte:
»Dann bestrafen wir uns selbst. Wenn kein anderer schuld ist, bin ich’s selber.« Er
öffnete die Augen und fixierte die Brille des Psychologen.
    Die Gläser nickten. »Ich kann dir helfen«, sagte Anday. Er zog eine
Visitenkarte aus seinem Ärztekittel und legte sie Lázlo aufs Bett. Neben eine
geballte Faust.
    »Wenn du dir helfen lässt. Und ja, ich weiß, Lázlo: Auch das klingt
wie aus einem Film.«
    »Einem guten oder einem schlechten?«
    Da war es wieder – dieses Lächeln. »Was glaubst du?«, fragte der
Psychologe und nickte ein zweites Mal. Drehte sich um und ging zur Tür.
    »Wann kann ich hier raus?«, rief Lázlo hinter ihm her.
    »Jederzeit«. Anday hielt kaum inne – plötzlich schien er es eilig zu
haben. »Deine Mutter wartet draußen. Sie wird dich nach Hause bringen.«
    Arsch, dachte Lázlo ein letztes Mal, hielt aber den Mund. Nachdem
Anday verschwunden war, stemmte Lázlo sich hoch, schwang die Beine übers Bett und
keuchte auf. Sein Kopf dröhnte, als wollte er auch einmal
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