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Blutrote Sehnsucht

Blutrote Sehnsucht

Titel: Blutrote Sehnsucht
Autoren: Susan Squires
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dritten Stock hinauf. Dort, unter dem Dachgesims, lag das Kinderzimmer, der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Leise, um nicht den Türklopfer in Bewegung zu setzen, zog sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen, als könnte sie so die Tatsache ausgesperrt lassen, dass ihr Onkel wirklich gebrechlich war und sie einen Albtraum von Hausgast haben würde.
    Zumindest hatte sie ihren Zufluchtsort, das Kinderzimmer. Prüfend blickte sie sich um. Das schmale Bett mit der farbenfrohen Tagesdecke stand unter dem Mansardenfenster, an dem der Wind jetzt rüttelte. Auf der kleinen Frisierkommode waren Tiegelchen und Pinsel aufgereiht. Bücherregale, die an der Innenwand vom Boden bis zur Decke reichten, schirmten das Zimmer vor dem Rest der Welt ab. Zwei schon etwas abgegriffene Puppen saßen auf dem Fensterbrett. Die Teppiche, die auf dem Boden lagen, hatte ihr inzwischen lange verstorbenes Kindermädchen Malmsy geknüpft. Alles hier war Ann vertraut. Sie ging zu den Puppen und berührte eine, wobei sie ausschließlich Erinnerungen an ihre eigene Kindheit überkamen. Sie vermisste ihre Malmsy, die sich um sie gekümmert hatte, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Malmsy war die Einzige, deren Berührung keine Qual für sie gewesen war, die Einzige, die sie je umarmt hatte. Natürlich war ihre Amme gestorben, bevor das volle Ausmaß von Anns Leiden zutage getreten war. Ann fragte sich, ob nach ihrem fünfzehnten Geburtstag vielleicht sogar Malmsys Berührung eine Qual für sie gewesen wäre.
    Das schmerzliche Verlustgefühl, das sie nie ganz losließ, durchflutete Ann wieder. Menschliche Berührungen blieben ihr verwehrt. Sie ließ sich in den kleinen Sessel vor ihrer Frisierkommode sinken. Obwohl er für ein Kind gefertigt war, passte sie immer noch hinein. Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel anschaute, sah aus, als gehörte es nicht in diese Welt. Weißblondes Haar umrahmte zarte Gesichtszüge, eine gerade, kleine Nase und einen fein geschnittenen Mund. Die grauen Augen sahen aus, als sähen sie Gespenster, was sie in gewisser Weise ja auch taten, oder zumindest doch, wenn sie etwas berührte. Ihre Haut war blass, fast durchsichtig. Alles in allem sah sie viel zu zerbrechlich aus für diese Welt. Was ebenfalls den Tatsachen entsprach.
    Ihr Onkel hatte recht, was ihre Zukunft anging. Auch wenn sie sich bemühte, ihre Ängste mit einem Schulterzucken und einem Lächeln vor ihm zu verbergen, waren ihre Aussichten doch ziemlich düster. Ihr Fluch war, dass sie durch bloße Berührung alles über andere erfuhr. Menschen zu berühren, brachte eine Flut von Bildern aus deren Vergangenheit mit sich und ließ Ann ihre Gefühle und den unverfälschten, oft widersprüchlichen Kern ihrer Natur erkennen. Aber nicht nur für sie waren Berührungen ein Schock, sondern fast ebenso sehr auch für die jeweilige Person, die die Erfahrung machte. Selbst Dinge anzufassen, rief Eindrücke von all den Menschen, die den Gegenstand im Laufe seiner Existenz berührt hatten, in ihr hervor. Wenn sie nicht aufpasste, wurde sie von all den auf sie einstürmenden Informationen derart überwältigt, dass sie nicht einmal mehr denken konnte.
    Dieser Fluch, der auf allen Frauen ihrer Familie lastete, hatte ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben, und früher oder später würde er auch Anns Verstand verwüsten. Wahrscheinlich würde sie dann in einer Zelle enden, mit Ketten um ihre zarten Fußknöchel, auf schmutzigem Stroh am Boden liegend und schreiend, bis sie zu heiser war, um auch nur zu krächzen.
    Ihr ruhiges Leben hier, unter dem Schutz ihres Onkels, hatte das Unvermeidliche bisher abgewendet, doch wenn er starb, würde Friedensrichter Fladgate einen Weg finden, sie einzuliefern. Sie war ein Albtraum für das Dorf, die »Andersartige«, die Dinge wusste, die niemand wissen durfte. Alle in der Ortschaft waren überzeugt davon, dass ihre Geheimnisse nicht sicher waren, solange Ann auf Maitlands Abbey lebte.
    Und wenn sie heiratete? Dann war das Irrenhaus ihr sicher. Es schauderte sie bei dem Gedanken, dass ein Mann sie anfasste und mit einer Fülle von Bildern und Erfahrungen überschüttete. Der Wahnsinn hatte ihre Mutter genau in jener Nacht ereilt, in der Ann gezeugt worden war. Es war das erste Mal gewesen, dass ihre Eltern versucht hatten, eheliche Beziehungen aufzunehmen. Am nächsten Morgen war ihre Mutter nackt und sabbernd aufgefunden worden. Im Jahr darauf war sie in einer Anstalt verstorben. Das war kurz nach Anns Geburt
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