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Blutportale

Blutportale

Titel: Blutportale
Autoren: Markus Heitz
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kommen so oft vorbei, bis du das machst, was man von dir erwartet.« Der Anführer beugte sich zu ihm herab und riss ihm mit einem brutalen Ruck die dünnen Widerhaken aus dem Körper.
    Will holte tief Luft und konnte sich immer noch nicht rühren. Menschen mit schwachem Herzen würden einen Taserangriff wohl nicht überleben. Er atmete tief ein und aus, richtete seinen Oberkörper behutsam auf und hielt sich ächzend die Brust, in der sein Herz raste. »Wenn du nun so freundlich wärst, hier zu unterschreiben«, sagte der Anführer und hielt ihm ein Blatt Papier unter die Nase.
    »Ve... verpiss dich!«, stieß Will hervor.
    »Aber gerne doch«, hörte er zu seinem Erstaunen. »Dann haben wir doch direkt einen Grund mehr, dich noch einmal besuchen zu können.«
    Der muskulöseste der Schläger packte Will und schleuderte ihn in das nächste Regal, das daraufhin zusammenbrach und ihn mit Orchideen bedeckte.
    Passanten blickten schaulustig herein, einer telefonierte dabei; hoffentlich rief er die Polizei und erzählte nicht nur einem Freund, was er gerade Cooles beobachten konnte. Will lehnte den schmerzenden Kopf gegen ein Regalbrett. »Scheiße«, flüsterte er und musste husten. Mit Qualen im ganzen Leib zog er sich in die Höhe, während die Männer bis auf den Anführer abrückten; der Kräftige nahm grinsend einen Behälter mit roten Rosen mit. Einer nach dem anderen stiegen sie durch die Schiebetür in den Transporter. Die Passanten machten einige Schritte zur Seite, manche flüchteten vorsichtshalber auf die andere Straßenseite. Der Chef riss seelenruhig einen großen Bogen Klarsichtfolie von der Rolle ab und legte sie über den Vertrag auf dem Tresen. »Schönen Tag, Inder«, sagte er und steckte den Umschlag mit dem Geld ein, ehe er zum Transporter ging. Glas knirschte und knackte unter seinen dicken Sohlen. Will wischte sich das Blut, das ihm ins rechte Auge lief, mit dem Finger weg und wunderte sich über die Folie. Was sollte das nun wieder?
    Eine Flasche mit einer Flüssigkeit darin und einem brennenden Lappen im dünnen Hals flog in einem flachen Bogen aus dem Transporter und zerschellte im Eingang. Sofort loderten Flammen auf und leckten über die zerstörten Regale, über die Blumen und anderen Pflanzen. Der VW donnerte davon, als der Rauchmelder anschlug. Gleich darauf setzte sich die Sprinkleranlage in Betrieb und durchnässte Will mit eiskaltem Wasser. Nun begriff er auch, was die Klarsichtfolie über der Mappe zu bedeuten hatte.
     
11. Oktober
Russland, Sankt Petersburg, Theaterplatz, Mariinski-Theater
    Andreji Smolska, ein zweiunddreißigjähriger Nachwuchssänger, der aussah wie ein junger Peter Hofmann mit schwarzen Haaren, hatte mit seiner eindrucksvollen Bassstimme ein Lied nach dem anderen geschmettert. Nun wartete er im Schutz eines künstlichen Hügels auf seinen nächsten Einsatz, wie ein König, dessen Erscheinen das einfache Volk herbeisehnte. Smolska beherrschte die Massen, verzauberte sie mit seiner Stimme, dem Timbre und dem Ausdruck seines Gesangs. Er dosierte sein Können sehr genau, gewährte den Zuschauern seine Gunst und gab ihnen doch immer das Gefühl, Bittsteller zu sein. Er bekam jeden Menschen dazu, dankbar für jeden einzelnen Ton zu sein, der ihm über die Lippen kam. Er war eine Ausnahmeerscheinung, und er wusste dies zu seinem Vorteil einzusetzen.
    Die zweitausend Zuschauer verfolgten gebannt den vierten Akt der Oper Ein Leben für den Zaren, die von dem Kämpfer Sussanin handelte, der im Jahre 1613 durch eine heldenhafte Täuschung eine Truppe polnischer Angreifer in die Irre geleitet und den schutzlosen Zaren vor ihnen gerettet hatte. Smolska hatte selbstverständlich die Rolle des Sussanin übernommen. Die Petersburger hatten Glinkas Stück aus dem neunzehnten Jahrhundert immer schon gern gesehen, und damit das so blieb, hatte der neue Intendant des Mariinski-Theaters die Inszenierung kräftig modernisiert. Auf der Bühne wurde nun mit rasanten Säbelkämpfen und filmtauglichen Prügeleien reichlich Action geboten. Aus dem Klassiker war beinahe ein Musical geworden, ohne aber seinen Charme zu verlieren.
    Smolska betrachtete das Theater stolz, seine Augen kamen mit dem schummrigen Licht hervorragend zurecht. Auch wenn der prachtvolle Saal nicht ihm gehörte, war es doch seine Welt, sein Ersatzreich, in dem er unangefochten mit seiner Stimme und seiner Präsenz herrschte.
    Der herrlich dekorierte, mehrstöckige Zuschauerraum mit seinen Logen war beinahe noch original
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