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Blutnebel

Blutnebel

Titel: Blutnebel
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war, deren Einhaltung die Etikette im ländlichen Süden erforderte. Ja, tatsächlich kämpfte sie, seit sie erwachsen war, mit ebenso rücksichtsloser Entschlossenheit darum, sich den größten Teil dieser Erinnerungen abzugewöhnen, wie sie sich auch ihren verräterischen Südstaatenakzent abtrainiert hatte.
    Statt ihm das zu erzählen, nickte sie ihm lediglich übers Autodach hinweg zu. »Ich werd’s mir merken.« Sie machte die Hintertür auf und warf ihre Tasche auf den Sitz hinter dem Maschendrahtgitter, das dazu diente, Inhaftierte und Polizisten zu trennen, ehe sie vorne einstieg.
    Rollins bugsierte seinen langen, hageren Körper auf den Fahrersitz, steckte den Schlüssel in die Zündung und schnallte sich an. Nach wenigen Minuten Fahrt bog er ohne Vorwarnung von der Straße ab und fuhr querfeldein weiter. Nachdem sie die ersten Rumpler über sich hatte ergehen lassen, wappnete sich Ramsey mit einer Hand am Armaturenbrett und der anderen am Autodach.
    »Tut mir leid.« Rollins schien mit jedem Ruck und jeder Bodenschwelle geschmeidig mitzugehen. »Auf der Straße brauchen wir eine halbe Stunde bis dorthin. Die Jugendlichen, die die Leiche gefunden haben, sind durch den Wald auf der anderen Seite marschiert, aber von hier aus ist es ein einfacher Spaziergang, obwohl ich mir habe sagen lassen, dass es länger dauert. Und von dieser Seite wurde die Leiche auch abtransportiert.«
    »Ist das Opfer schon identifiziert worden?«
    »Nein. Eine Weiße zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Wurde nackt aufgefunden, also gibt es keinerlei Anhaltspunkte durch die Kleidung.« In Marks Kinn zuckte ein Muskel. »Jedenfalls ist sie nicht von hier, das steht schon mal fest. Und sie passt zu keinem der Einträge in der landesweiten Vermissten-Datenbank. Der ärztliche Leichenbeschauer hat eine DNA-Probe genommen, und wir haben die Ergebnisse in den FBI-Computer eingegeben, doch ohne Erfolg.«
    Also eine Unbekannte, zumindest fürs Erste. Ramsey verspürte einen Anflug von Mitleid mit der fremden Frau. Vielleicht war sie nicht einmal als vermisst gemeldet worden. Und sie war allein und fern von zu Hause gestorben. War das schlimmer, als in vertrauter Umgebung ermordet zu werden? Irgendwie kam es ihr so vor.
    »Wie brauchbar waren die Zeugen?«
    »Was – die Kids?« Mark warf ihr einen Blick zu. »Sie haben uns gesagt, was sie wussten, aber das war nicht viel. Waren natürlich beide halb verrückt vor Angst und haben Unsinn über roten Nebel, Schreie und tanzende Lichter geredet … Soll ich dir mal sagen, was ich glaube?« Der Jeep überfuhr eine Bodenrinne und machte einen knochenbrecherischen Satz, der Ramseys Zähne klappern ließ. »Ich glaube, die Hälfte davon geht auf diese dämliche Legende zurück, der die Leute hier unbedingt immer wieder neues Futter geben müssen.«
    »Legende?« Die Fallakte enthielt nur die Fakten. Waren Fakten aber Mangelware, dann bekamen andere Details mehr Bedeutung.
    Rollins blickte gequält drein. »Ich schätze, das wirst du sowieso von nahezu jedem zu hören kriegen, mit dem du hier sprichst. Aber bei dir kann ich mich ja darauf verlassen, dass du dich von Unsinn nicht ablenken lässt.« Trotzdem brauchte er eine Weile, bis er die passenden Worte gefunden hatte. Oder vielleicht sammelte er auch nur Kräfte, um den Jeep zu manövrieren: Unter dem Gras verbarg sich ein vertracktes Terrain.
    »Es gibt hier ein lokales Phänomen namens ›der rote Nebel‹. Jemand anders könnte es bestimmt besser erklären, aber es ist die Folge irgendeiner Reaktion gewisser hier wachsender Pflanzen, wenn sie mit Eisenoxid aus stehenden Gewässern in Kontakt kommen, ergänzt durch irgendwelche Fremdkörper in der Luft. Alle Jubeljahre färbt sich der Nebel in tief liegenden Gebieten ein oder zwei Tage lang rötlich ein. Natürlich steckt nichts Magisches dahinter, aber die Leute hier verlieren darüber regelmäßig den Verstand.«
    »Die Jugendlichen, die die Tote gefunden haben, haben also diesen roten Nebel gesehen?«
    »Das behaupten sie zumindest. Und ich kenne noch andere aus der Gegend, die behaupten, ihn gesehen zu haben, also stimmt es vielleicht sogar. Doch die lokale Legende besagt, dass, wann immer der rote Nebel auftaucht, der Tod nicht weit ist.«
    Der Jeep fuhr so unsanft über eine Bodenrinne, dass sich Ramsey den Kopf heftig am Autodach anschlug. Mit grimmigem Lächeln suchte sie eine stabilere Position auf ihrem Sitz und wartete, bis ihre inneren Organe wieder an ihren Plätzen gelandet
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