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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
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hätte Anna selbst aus zwanzig Metern Entfernung schwören können, dass der Mann zusammenzuckte und, offenbar unsicher, ob er die Flucht ergreifen sollte, über die Schulter blickte. Wie ein Hund, der das Jagdhorn hört, war Anna plötzlich hellwach, und ihr Argwohn meldete sich.
    »Was mag er wohl im Schilde führen?« Sie bemerkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als Joan und Rory sie erstaunt ansahen. »Was habt ihr?«, fragte sie.
    Joan kicherte. Nur wenige Menschen kicherten noch, das leise, perlende Geräusch, frei von Zynismus oder Vorurteilen, das die Vorstufe der Erheiterung ist.
    Anna wandte sich wieder dem Mann zu, der sich inzwischen näherte. Ziemlich widerstrebend, wie sie fand. Diesmal jedoch ließ sie sich ihr Misstrauen nicht anmerken. Anfangs hatte sie die geschärfte Aufmerksamkeit, eine zwangsläufige Begleiterscheinung ihrer Tätigkeit im Polizeidienst, als störend empfunden. Im Laufe der Zeit jedoch hatte sie gelernt, diese Seite an sich zu mögen, so als wäre die ständige Suche nach Problemen etwas Erstrebenswertes.
    Der Fremde war ihrer Schätzung nach noch ein Jugendlicher, konnte aber auch ein wenig älter sein. Er hatte zwar keinen Bart, doch die Schmutzschicht um seinen Mund hatte eine alternde Wirkung. Offenbar hielt er sich schon eine Weile in der Wildnis auf. Seine auffälligen haselnussbraunen Augen blickten unter wunderschön geschwungenen Brauen hervor. Im Schatten einer Basketballkappe mit einem aufgestickten Delfin auf dem Schirm huschten sie unruhig hin und her, als befürchte er, hinter ihrer kleinen Gruppe könnte sich Verstärkung verbergen, die sich jeden Moment auf ihn stürzen würde. Sein Rucksack war groß und zu schwer für einen Tagesausflug, allerdings auch nicht für eine Übernachtung gepackt. Nach den Dellen im reißfesten Nylon zu urteilen, enthielt er weder Schlafsack noch Zelt. Also hatte der Junge anscheinend irgendwo hier draußen sein Lager aufgeschlagen. Warum schleppte er dann den Rucksack mit Rahmen mit sich herum? Und weshalb der verängstigte Ausdruck in den Augen?
    »Du hast dich ziemlich weit in die Wildnis gewagt«, stellte Joan fest und hielt ihm die Hand hin.
    Nach kurzem Zögern griff er danach. Arbeiterhände, wie Anna bemerkte. Schwielig, voller Narben und mit abgebrochenen schmutzigen Nägeln. Offenbar war seit seinem letzten Bad eine Weile vergangen. Seltsam für einen so jungen Mann. Sein Hemd hatte Rußflecken, und er trug eine Kette zweimal um die Taille gewickelt.
    »Wollen Sie hier zelten?«, erkundigte er sich. Die Frage, die in Annas Ohren nicht sehr freundlich klang, schien Joan überhaupt nicht zu stören, denn sie begann, das Greater Glacier Bären- DNA -Projekt in für einen Laien verständlichen Worten zu erklären. Anna stellte den Rucksack ab und nahm die Wasserflasche aus der seitlich angebrachten Netztasche. Joan missionierte wieder einmal, um bei den Massen für mehr Respekt vor Bären zu werben. Währenddessen versuchte Anna, anhand des Akzents zu ermitteln, woher der Junge stammte. Doch anscheinend war Henry Higgins, der Sprachwissenschaftler aus Pygmalion, der Einzige, dem es gelang, seine Mitmenschen mehr als nur grob nach ihrem Dialekt einzuordnen. Amerikaner machten es durch ihr ständiges Umherschwimmen im Schmelztiegel noch schwieriger. Kindergarten in Milwaukee, Grundschule in San Diego, Highschool in Saint Louis. Anna tippte auf den Süden, irgendwo zwischen Virginia und Texas.
    Einer alten Gewohnheit folgend, prägte sie sich sein Äußeres ein. Er war kräftig gebaut, allerdings nicht groß, höchstens eins fünfundsiebzig, und gedrungen, ohne dick zu sein. Seine Figur wies darauf hin, dass er vermutlich um einiges stärker war, als man ihm zutraute. Von einem wohlgeformten Hals gingen breite Schultern ab. Das Haar, das unter der Baseballkappe hervorlugte, war seidig, braun und gewellt. Eines Tages würde sein Gesicht klassisch-markante Züge aufweisen. Das erkannte Anna an der Adlernase und dem abgerundeten, kräftigen Kinn.
    Sie trank wieder einen Schluck und setzte sich auf einen Felsen.
    Der Junge nahm weder den Rucksack ab, noch machte er es sich wie Anna und Rory gemütlich. Nachdem Joan am Ende ihres Vortrags angelangt war, fragte er sie, wo sich ihre Fallen befanden. Joan zeigte es ihm sofort auf der Karte. Anna ertappte sich bei dem Wunsch, dass sie das nicht getan hätte. Er schien sehr neugierig zu sein, und zwar nicht auf das Projekt, sondern darauf, ihren zukünftigen Aufenthaltsort in Erfahrung
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