Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
zu bringen.
    »Ich bin Anna Pigeon«, unterbrach sie nicht sehr höflich. »Und das sind Joan Rand und Rory Van Slyke.« Sie trat auf ihn zu und streckte die Hand aus wie Joan vorhin. Es gab keinen besseren Weg, um jemanden buchstäblich und im übertragenen Sinne abzutasten. Trotz des heißen Nachmittags war seine Handfläche feuchtkalt. Entweder hatte er Angst oder einen ziemlich niedrigen Blutdruck. Außerdem verströmte er einen scharfen Geruch. Nicht nur den von mangelnder Körperpflege, sondern auch etwas Moschusartiges und Animalisches. »Wie heißt du denn?«
    Wieder zuckte er zusammen. »Geoffrey … äh … Mic … Mickleson.«
    »Nicholson?«, hakte Joan hilfsbereit nach.
    »Nicholson.«
    Nun stand für Anna fest, dass der Junge nicht koscher war. »Woher kommst du denn, Geoffrey?« Im Trace-Nationalpark und in Uniform hätte sie ihn aufgefordert, mit dem Führerschein in der Hand aus dem Auto zu steigen, und zwar schneller, als eine Schwalbe die Flugrichtung ändern kann.
    »Oh. Sie wissen schon. Von überall her. Am besten gehe ich jetzt wieder. Es ist ziemlich weit zum Camp.« Als er zum ersten Mal lächelte, widerstand Anna der Versuchung, sich davon einwickeln zu lassen. Sein Lächeln war nicht nur hübsch – die ebenmäßigen weißen Zähne waren vermutlich das Sauberste an ihm –, sondern hatte auch etwas Entschuldigendes an sich. Außerdem eine Unschuld, die an Arglosigkeit grenzte. Da das Lächeln nicht zum Gesamteindruck passte, beschloss Anna, nicht darauf zu achten.
    »Wir sehen uns noch«, sagte sie, während er kehrtmachte und den Weg zurückging, den er gekommen war. Es klang eher wie: »Wir werden dich im Auge behalten«, und Anna meinte es auch so. Einige Leute musste man beobachten, und sie war überzeugt, dass dieser Bursche dazugehörte. Allerdings war sie nicht sicher, ob sie ihm wieder begegnen würden. Nicht, wenn er sie zuerst bemerkte.
    Ein perlendes Geräusch holte sie in die Gegenwart zurück. Joan grinste, und ihre Augen funkelten eindeutig viel zu belustigt. »Du warst kurz davor, den Kleinen abzutasten und ihm seine Rechte vorzulesen. Das mit dem Abtasten kann ich ja verstehen. Dieses Lächeln war zum Niederknien.«
    Rory starrte auf ein verkohltes Holzstück. Offenbar war es ihm peinlich, dass Frauen, die so alt wie seine Mutter – oder sogar älter – waren, anzügliche Gedanken hatten.
    »Der Typ ist ein falscher Fuffziger«, rechtfertigte sich Anna.
    »Ach, er war sicher nur schüchtern.«
    »Er hat einen halb leeren Tramperrucksack mit sich herumgeschleppt.«
    »Vielleicht hat er ja seinen Tagesrucksack verloren.«
    »Der Rucksack war zu voll für einen Tagesausflug.«
    »Möglicherweise fotografiert er ja und hatte Kameras, ein Stativ und Filme dabei.«
    »Kann sein«, erwiderte Anna, obwohl sie das nicht glaubte. »Warum hat er sich so dafür interessiert, wo wir hinwollen und wo wir unser Lager aufschlagen werden?«
    »Weil er ein netter junger Mann ist und nette junge Männer so tun, als interessierten sie sich für das, was Erwachsene ihnen erzählen. Richtig, Rory?«
    »Richtig.« Rory klang so aufrichtig überzeugt, dass Anna am liebsten laut gelacht hätte. Aber sie verkniff es sich, um ihn nicht zu kränken.
    »Siehst du? Das ist der Beweis«, stellte Joan fest.
    Anna schwieg. Anscheinend steigerte sie sich wirklich in etwas hinein. »Sind wir bald da?«, erkundigte sie sich in klagendem Tonfall.

3
    Als sie in der Nähe der ersten Haarfalle ankamen, reichten die Lichtverhältnisse und ihre Kräfte gerade noch, um das Zelt aufzubauen.
    Nach Sonnenuntergang wurde es kalt am Berg, da die dünne, trockene Luft die Hitze nicht speicherte. Pferdefliegen und Bremsen machten sich bei Dunkelheit in ihre Verstecke davon, während die Moskitos blieben und, rasend vor Gier, in einer Wolke über dem Lager schwebten.
    Trotz ihrer blutdürstigen Übergriffe holte Anna Wasser an einem beeindruckend schönen Bach, der sich, gesäumt von einem Farbenmeer aus Wildblumen, wie ein grünes Band durch die verkohlte Landschaft schlängelte. Sich in der Wildnis sauber zu halten war eine mühsame Angelegenheit, wobei die Anstrengungen nur selten mit einem befriedigenden Ergebnis belohnt wurden. Doch für Anna stellte es eine Notwendigkeit dar, wenn sie nur annähernd bei guter Laune bleiben wollte. Allerdings fielen ihre Waschungen an diesem Abend recht kurz aus, da jedes Stück nackte Haut sofort von fliegenden Plagegeistern attackiert wurde.
    Zu müde für kulinarische Experimente
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher