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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
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hefteten sich Pferdefliegen, Bremsen und Moskitos an ihre Fersen. Und da das Zeitfenster, um ihren Durst zu stillen, nur klein war, kannten die Insekten keine Furcht.
    Trotz Asche und Ruß war Anna dankbar für das Feuer, das etwa viertausend Hektar von Amerikas schönster Naturlandschaft vernichtet und den Mut des Leiters dieses Nationalparks auf eine harte Probe gestellt hatte – ganz zu schweigen von seinem Glauben an die Vernunft des Direktors der Nationalen Parkaufsicht, da er tatenlos hatte zusehen müssen, wie seine vorgesetzte Behörde dem Brand einfach seinen Lauf ließ, sodass sich die Feuerwalze unaufhaltsam dem kanadischen Teil des Waterton-Glacier International Peace Parks näherte. Es war der einzige Park seiner Art, dessen eine Hälfte in Kanada, die andere in den Vereinigten Staaten lag, weshalb wichtige Entscheidungen in Sachen Umweltfragen und Vorschriften von beiden Ländern gemeinsam getroffen werden mussten.
    Der kanadische Behördenchef war in der Frage, ob man der Natur gestatten sollte, einfach nach Lust und Laune weiterzubrennen, weniger optimistisch eingestellt als sein amerikanischer Kollege. Doch dieser war unbeugsam geblieben. Also hatte man abgewartet, bis das Feuer von selbst verlosch, worüber Anna sehr froh war, denn sie war keine große Freundin von Bäumen, die einem den Blick auf den Wald verstellten. Außerdem beseitigte ein Brand das tote Holz, sodass der Boden wieder Licht und Luft bekam. Nur so hatte das strotzende Leben die Chance, auf die notwendige reinigende Wirkung eines Feuers einen Neuanfang folgen zu lassen.
    Die verkohlte Erde wurde von einem Teppich aus Gletscherlilien bedeckt, die im goldenen Schein der untergehenden Sonne in einem so leuchtenden und kräftigen Grün erstrahlten, wie Anna es nur von veränderten Bewusstseinszuständen in den Sechzigern und Bildern von Andy Warhol kannte.
    Gletscherlilien waren zarte gelbe Blumen, kleiner als eine Vierteldollarmünze, deren hängende, spitze und eingerollte Blütenblätter rote, von Pollen strotzende Stempel umschmiegten wie ein anmutiger Rock. Ihr Laub setzte unten am Stängel an und war, grün und schmal zulaufend, so hoch wie die Blume selbst. Unter all dieser Pracht verbargen sich laut Joan stärkehaltige Zwiebeln. Diese wurden von den Grizzlys im Spätsommer ausgegraben, wenn sie dem Heidelbeerbestand in größere Höhen folgten. Am Höhepunkt der Saison wühlten die Bären gewaltige Gebiete auf, die anschließend aussahen wie umgepflügt.
    In diesem Jahr waren die Blumen ein atemberaubender Anblick. Im Glacier war beinahe doppelt so viel Schnee gefallen wie gewöhnlich und oberhalb von zweitausend Metern bis Juli liegen geblieben. Nun fanden Frühling, Sommer und Herbst gleichzeitig statt, da die verspätet aus dem Winterschlaf erweckten Pflanzen im Eiltempo ihre verschiedenen Lebensphasen durchliefen, um vor den ersten kalten Septembernächten ihre Samen zu verbreiten.
    »Hey«, meinte Joan. »Wir haben Gesellschaft.«
    Widerwillig löste Anna den Blick von den grüngoldenen Blumen.
    Auf einem niedrigen Felsgrat, der wie alles andere von der heiß lodernden Feuersbrunst geschwärzt worden war, stand ein einsamer Wanderer. Hinter ihm ragte eine nackte Felswand empor. Vermutlich war sie ursprünglich hellbraun gewesen, wirkte aber nun dort, wo der Regen Ruß und Kohlestaub teilweise weggespült hatte, gräulich wie ein fauler Zahn.
    Es war im Park nicht verboten, von den Pfaden abzuweichen. Auch nicht, fernab davon zu campieren, obwohl man dafür eine Sondergenehmigung brauchte. Dennoch kam es nur selten vor und war, wenn man sich allein auf den Weg machte, sträflicher Leichtsinn. Bären stellten beim einsamen Umherstreifen durch die Wildnis die geringste Gefahr dar. Unachtsamkeit und Übermut waren da um einiges bedrohlicher. Ein Ausrutschen, ein Sturz, ein schwer verstauchter Knöchel oder eine zerschmetterte Kniescheibe konnten dazu führen, dass man erfror oder verdurstete, ehe überhaupt jemand auf die Idee kam, einen Suchtrupp loszuschicken.
    Rory, der offenbar von einer zwischenmenschlichen Begegnung – sprich, Ruhepause – ausging, ließ sofort den Rucksack fallen und kramte seine Wasserflasche heraus, ein hochmodernes Modell mit eingebautem Filter. Anna gestattete sich kurz, ihn darum zu beneiden.
    »Hallo!«, rief Joan fröhlich, denn sie war nun einmal ein freundlicher Mensch.
    Ein nettes »Hallo« von einer Frau mittleren Alters war wohl kaum der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind. Dennoch
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