Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutiges Schweigen

Blutiges Schweigen

Titel: Blutiges Schweigen
Autoren: T Weaver
Vom Netzwerk:
meine Augen mich verrieten. Doch irgendwann musste ich sie ansehen. Und als ich es tat, stand mir die Antwort offenbar ins Gesicht geschrieben, denn sie nickte langsam und brach dann in Tränen aus.
     
    Draußen schüttelte James Carver mir die Hand. Wir schauten seiner Frau nach, die das Victoria Embankment entlang davonschlenderte. Auf dem dunkelgrauen Wasser der Themse fuhren Boote. Der Herbst arbeitete sich nach einem schwülwarmen Sommer aus dem Winterschlaf hervor.
    »Wie wollen Sie das Finanzielle regeln?«, erkundigte er sich.
    »Lassen Sie uns morgen darüber reden.«
    Er nickte. »Ich werde da sein. Caroline vielleicht nicht, weil sie in einer Schule in South Hackney zu tun hat.«
    »Schon gut. Ich spreche mit ihr, wenn sie Zeit hat.«
    Ich sah zu, wie Carver seiner Frau folgte. Als er sie erreicht hatte, griff er nach ihrer Hand. Sie reagierte zwar, allerdings ziemlich kühl. Ihre Finger waren steif und unnachgiebig. Als er sie ansprach, zuckte sie nur die Schultern und ging weiter. Sie steuerten auf den Westminster Pier zu, und als sie die Straße in Richtung U-Bahnhof überquerten, blickte sie sich noch einmal nach mir um. Eine Sekunde lang erkannte ich die Wahrheit: Etwas war bei unserem Treffen ungesagt geblieben, die Andeutung eines Geheimnisses, von dem ihr Mann nichts wissen durfte.
    Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was es war.

     
    Es fing schon um halb sechs an, dunkel zu werden. Auf dem Rückweg vom Restaurant machte ich einen Abstecher ins Büro. Ich hatte einige Notizen dort liegen lassen, einschließlich der, die ich mir heute Vormittag in Sachen Megan Carver gemacht hatte. Als ich nach Hause kam, war es kurz nach sieben. Das Haus war stockdunkel. Da ich die Alarmanlage nicht eingeschaltet hatte, piepsten die Sensoren leise, als ich mich im Haus bewegte: erst in der Küche, dann im Wohnzimmer und schließlich im Schlafzimmer am Ende des Flurs. Ich legte meine Sachen weg, duschte und saß dann eine Weile auf der Bettkante und sah mir die Fotos von Derryn und mir an.
    Eines, das ganz unten im Stapel lag, zeigte uns beide am Eingang des Imperial Beach in San Diego, damals, als ich in die USA geschickt worden war, um über die Wahlen des Jahres 2004 zu berichten. Ich hielt sie in meinem Arm. Auf meiner Nase saß eine Sonnenbrille, und mein Haar war nass vom Meerwasser. In meinem Neoprenanzug sah ich breit, gut gebaut und muskulös aus, und man merkte mir die eins neunzig an. Neben mir wirkte Derryn noch kleiner, als sie eigentlich war, so als vertraue sie darauf, dass ich sie vor etwas außerhalb des Bildrandes beschützte. Ich mochte dieses Foto. Es erinnerte mich daran, wie es sich angefühlt hatte, der Mensch zu sein, den sie brauchte.
    Ich verstaute die Fotos wieder im Nachttisch, zog mich an und betrachtete ihre Sachen, die immer noch im Zimmer herumlagen. Wir hatten das Haus mit dem Gedanken gekauft, eine Familie zu gründen. Doch die Tinte auf den Verträgen war noch nicht ganz trocken gewesen, als sie die Diagnose Brustkrebs bekam. Danach war alles ganz schnell gegangen. Zwei Jahre lang hatte sie gegen die Krankheit gekämpft, aber unsere gemeinsame Zeit zusammen war sehr kurz gewesen.
    An manchen Tagen kam ich mit diesem Zeitmangel zurecht und konnte mich einfach über jeden gemeinsamen Augenblick
freuen und dafür dankbar sein. Und dann wieder spürte ich nur noch Wut. Darauf, was ihr zugestoßen war — und auf die Art und Weise, wie ich allein zurückbleiben musste. An diesen Tagen fand ich einen Weg, das Gefühl wegzudrücken. Denn in meinem Beruf traf ich häufig auf Menschen, die Schwachstellen sofort erkannten und ausnützten.
    Menschen, die daran auch noch Freude hatten.

2
    Das Haus der Carvers war eine alte sächsische Kirche im Dartmouth Park mit Blick auf Hampstead Heath. Vorn hatte das Gebäude drei Buntglasfenster und eine halb ovale Eichentür, die sich nach oben hin verjüngte. Es war ein wunderschönes Haus. Wilder Wein rankte sich das stahlgraue Mauerwerk hinauf. Das Dach war eine Masse aus dunklen Ziegeln und gelbem Moos. Die Tür wurde von zwei Föhren in Blumenkübeln flankiert. Vor dem Gebäude befanden sich beeindruckende Torpfosten und eine hübsche mit Kies bestreute Auffahrt, die um das Haus herum in den Garten führte. Einer der Torpfosten war zwar mit einer Gegensprechanlage ausgestattet, doch James Carver hatte für mich das Tor einen Spalt weit offen gelassen.
    Der Kies wirkte wie eine Alarmanlage. Carver blickte auf, als ich zum Tor hereinkam. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher