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Bluternte: Thriller

Bluternte: Thriller

Titel: Bluternte: Thriller
Autoren: Sharon Bolton
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für sie angelegt.«
    »Das weiß ich«, erwiderte Harry. »Aber dann …« Er wandte sich wieder der Szene vor ihm zu.
    »Na ja, jetzt verstehen Sie bestimmt unser Problem«, meinte Rushton. »Wenn die kleine Lucy hier allein bestattet wurde, wer sind dann die beiden anderen?«
    »Kann ich einen Moment mit ihnen allein sein?«, fragte Harry.
    Rushtons Augen wurden schmal. Sein Blick wanderte von den kleinen Gestalten zu Harry und wieder zurück.
    »Das hier ist heiliger Boden«, sagte Harry fast zu sich selbst.
    Rushton trat von ihm weg. »Ladys und Gentlemen«, rief er. »Bitte eine Minute Ruhe für den Vikar.« Die über das Areal verteilten Beamten blickten auf. Einer öffnete den Mund, um zu widersprechen, hielt jedoch inne, als er Brian Rushtons Gesichtsausdruck sah. Mit einem gemurmelten Dank trat Harry näher an die Absperrung heran, bis eine Hand auf seinem Arm ihm bedeutete, dass er stehen bleiben musste. Der Schädel des Leichnams, der ihm am nächsten war, war zertrümmert. Fast ein Drittel schien zu fehlen. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie Lucy Pickup ums Leben gekommen war. Er holte tief Luft und registrierte, dass alle um ihn herum reglos verharrten. Einige beobachteten ihn, andere hatten die Köpfe gesenkt. Harry hob die rechte Hand und schickte sich an, das Kreuz zu schlagen. Auf, ab, nach links. Er hielt inne. Näher am Fundort, direkt unter den Lampen, konnte er den dritten Leichnam besser sehen. Die winzige Gestalt war mit etwas bekleidet, das um den Hals herum mit einem Muster bestickt war: ein kleiner Igel, ein Kaninchen, eine Ente mit einer Haube. Figuren aus den Geschichten von Beatrix Potter.
    Er begann zu sprechen und wusste doch kaum, was er sagte. Ein kurzes Gebet für die Seelen der Toten; es hätte alles Mögliche sein können. Offenbar hatte er es beendet, die Leute von der Spurensicherung machten sich wieder an die Arbeit. Rushton klopfte ihm auf den Arm und führte ihn aus dem Zelt. Harry folgte widerspruchslos; ihm war klar, dass er unter Schock stand.
    Drei kleine Leichname, die aus einem Grab gepurzelt waren, das nur einen hätte bergen sollen. Zwei unbekannte Kinder hatten Lucy Pickups letzte Ruhestätte mit ihr geteilt. Nur war eins davon nicht unbekannt, jedenfalls nicht ihm. Die Kleine in dem Beatrix-Potter-Pyjama. Er wusste, wer sie war.

Teil I –
Abnehmender Mond

1
     
4. September (neun Wochen vorher)
    Die Fletchers hatten ihr großes, brandneues Haus ganz oben auf dem Moor gebaut, in einem kleinen Ort, den die Zeit anscheinend sich selbst überlassen hatte, damit er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern konnte. Es stand auf einem Grundstück von eher bescheidener Größe, das die Diözese hatte abstoßen müssen, weil sie dringend Geld brauchte. Die Fletchers bauten so nahe bei den beiden Kirchen – die eine alt, die andere sehr alt –, dass sie sich aus dem Schlafzimmerfenster beugen und fast das leere Gehäuse des uralten Turmes berühren konnten. Und auf drei Seiten ihres Gartens hatten sie die ruhigsten Nachbarn, die sie sich nur wünschen konnten. Denn die Fletchers hatten ihr neues Haus mitten auf einem Friedhof gebaut. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen.
    Doch Tom und sein kleiner Bruder Joe waren anfangs ganz aus dem Häuschen vor Freude. In ihrem neuen Zuhause hatten sie riesige Zimmer, die noch nach frischer Farbe rochen. Draußen hatten sie den von Brombeerranken überwucherten Kirchhof mit den zerbröckelnden Steinen, wo Abenteuer wie aus dem Märchenbuch nur auf sie zu warten schienen. Drinnen hatten sie ein Wohnzimmer, das je nach Sonnenstand in endlosen Gelbschattierungen leuchtete. Draußen hatten sie uralte Bogengänge, die zum Himmel emporragten, Tierbaue mit Efeu, der so alt und starr war, dass er ganz allein stehen konnte, und Gras, das so lang war, dass der sechsjährige Joe darin zu ertrinken schien. Drinnen nahm das Haus allmählich das Wesen ihrer Eltern an, je mehr frische Farben, Wandgemälde und geschnitzte Tiere in den Zimmern Einzug hielten. Draußen nahmen Tom und Joe den Kirchhof in Besitz.
    Am letzten Tag der Sommerferien lag Tom auf dem Grab von Jackson Reynolds (1875–1945) und sog die Wärme des alten Steines in sich auf. Der Himmel hatte denselben kornblumenblauen Farbton wie die Lieblingsmalfarbe seiner Mutter, und die Sonne schien bereits seit dem frühen Morgen. Es war ein Leuchtetag, wie Joe gern sagte.
    Tom hätte nicht zu sagen vermocht, was auf einmal anders war. Wie es kam, dass er sich eben
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