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Bluternte: Thriller

Bluternte: Thriller

Titel: Bluternte: Thriller
Autoren: Sharon Bolton
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blickte kurz zu Harry hinüber, der seine Lippen zu einem Lächeln zwang. Der Bestattungsunternehmer reichte ein Kästchen mit Erde herum. Die Anwesenden nahmen je eine Handvoll, warfen sie auf den Sarg und traten zurück. Einer nach dem anderen wandten sie sich ab und gingen den Hügel hinunter, bis Harry fast allein war. Ein großer, massiger Mann, den er nicht kannte, murmelte etwas und ging dann ein paar Schritte von dem Grab fort. Einmal schaute er sich nach den beiden letzten Personen um, die noch dort ausharrten, dann drehte er sich um und starrte auf das Tal hinaus.
    »Wann fährst du?«, fragte die blasse junge Frau im Rollstuhl. Ihre Augen wirkten zu groß in ihrem Gesicht und waren stumpf und trübe geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie sahen nicht mehr aus wie violette Stiefmütterchen.
    »Heute«, antwortete Harry. Dann schaute er den Hügel hinauf, dorthin, wo sein voll beladenes Auto geparkt war. »Jetzt gleich«, fügte er hinzu. Er hatte sich im Laufe der letzten paar Tage von allen verabschiedet. Dies hier würde der letzte Abschied sein.
    »Bist du okay?«, fragte sie.
    »Eigentlich nicht. Und du?« Er hatte nicht vorgehabt, zornig zu klingen – sie hatte ihre eigenen Probleme, das wusste er. Er konnte nur nichts dagegen machen.
    »Harry, du solltest mit jemandem reden. Du musst –«
    Er konnte sie nicht wieder ansehen. Wenn er sie ansah, würde er niemals wegfahren können. »Evi«, brachte er heraus, »ich kann nicht mehr mit Gott reden, und du lässt nicht zu, dass ich mit dir rede. Sonst gibt es niemanden, wirklich. Pass auf dich auf.«
    Er wandte sich von dem Grab ab und suchte sich einen Weg durch den Schnee. Die anderen Trauergäste waren alle verschwunden. Es war viel zu kalt, um lange draußen zu sein. Als er den Hügel hinaufschritt, hörte er, wie der Kirchendiener anfing, Erde auf den Sarg zu schaufeln. Es polterte dumpf.
    Er glaubte, vielleicht das Quietschen von Evis Rollstuhl gehört zu haben, doch er schaute sich nicht um.
    Noch mehr dumpfes Poltern. Harry beschleunigte seine Schritte, und das Geräusch von Erde, die auf Holz fiel, schien ihm den Hügel hinauf zu folgen. Der Kirchendiener arbeitete schnell. Noch ehe die Stunde um war, würde das neue Grab fertig sein, ein sanfter Erdhügel, mit Blumen bedeckt. Natürlich würden sie verwelken und sterben, das taten Blumen immer, doch die Leute würden neue bringen, würden das Grab in Ordnung halten. Die Menschen, die sich im Leben nicht viel aus Gillian gemacht hatten, würden sich um ihr Grab kümmern.
    Sie ehrten ihre Toten in Heptonclough, manche von ihnen zumindest.

Anmerkungen der Autorin
     
Heptonclough
    Das Dorf Heptonstall (der Name leitet sich ab aus dem altenglischen hep  – Heckenrose und tunstall – Bauernhof) in den Pennines von Yorkshire, unweit der Grenze zu Lancashire, diente als Inspiration und künstlerische Vorlage für Heptonclough, hat aber ansonsten nichts damit gemein. Genau wie sein fiktives Gegenstück verdankte jedoch auch Heptonstall seinen frühen Wohlstand dem Wollhandel und kann heute mit zwei Kirchen (einer alten und einer sehr alten), dem Pub White Lion, der alten Grundschule sowie zahlreichen von hohen Häusern gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen aufwarten. Besucher sollten nicht nach der Wite Lane, der Abtresidenz oder dem brandneuen Haus der Fletchers Ausschau halten. Aber man kann definitiv halbwüchsige Jungen mit ihren Fahrrädern über die Kirchhofmauern flitzen sehen. Ich habe das mit eigenen Augen beobachtet.
Angeborene Hypothyreose
»Ich sehe einen Kopf von ungewöhnlicher Form und Größe, eine untersetzte, aufgedunsene Gestalt, einen stupiden Gesichtsausdruck, trübe und tief liegende schwere Augen mit dicken, vorstehenden Lidern und eine platte Nase. Sein Gesicht ist von bleigrauer Tönung, seine Haut schmutzig, schlaff und von Flechten bedeckt, und seine dicke Zunge hängt über die feuchten, dunkelroten Lippen herunter. Sein Mund, stets offen und voller Speichel, zeigt faulende Zähne. Seine Brust ist schmal, der Rücken gekrümmt, sein Atem asthmatisch und seine Glieder kurz, missgestaltet und ohne Kraft. Die Knie sind dick und nach innen geneigt, die Füße platt. Der große Kopf hängt teilnahmslos auf der Brust, der Bauch ist wie ein Beutel.«
Beaupré, Dissertation sur les cretins, circa 1850
    Die angeborene oder kongenitale Hypothyreose, die genetisch bedingt, sporadisch oder endemisch auftreten kann, ist eine Erkrankung, die zu massivem Minderwuchs
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