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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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eigenhändig die Gerätschaften, um seinen Schwiegervater zu beschämen. Als dieser das sah, wurde er von Scham überwältigt und stattete seine Tochter Wenjun so reichlich aus, daß sie eine wohlhabende Frau war.
    Wenjun war eine große Schönheit; ihre Brauen glichen fernen Bergrücken, ihr Gesicht erinnerte an Hibiskusblüten, und ihre Haut war weich und schimmerte zart. Mit siebzehn Jahren war sie zur Witwe geworden. Ausschweifend und zügellos wie sie war, entzückte sie sich an Xiangrus Talenten und mißachtete die Riten. Xiangru hatte schon immer an der Durstkrankheit gelitten. Als er nun nach Chengdu zurückkehrte und Wenjuns Reizen verfiel, verschlimmerte sich dieses Leiden. Er schrieb daraufhin das Gedicht von der »Schönen«, worin er sich über sich selbst lustig machte, doch das änderte nichts, und schließlich starb er an der Krankheit. Wenjun verfaßte einen Trauergesang für ihn, der der Nachwelt erhalten ist.
     
    Chen stellte fest, daß der Begriff der Durstkrankheit hier andere Konnotationen aufwies als im Shiji . Statt die Geschichte von Anfang an zu erzählen, begann diese Version mit einer Schilderung der Notlage des Paares bei seiner Rückkehr nach Chengdu; der Schwerpunkt lag hier nicht auf der Romantik, sondern auf materiellen Sorgen. Xiangru wurde als gewinnsüchtiger Verschwörer geschildert, und Wenjun, wenngleich eine Schönheit, als Frau von fragwürdiger Moral.
    Die Durstkrankheit war in diesem Text ein Leiden, das von der Liebe ausgelöst worden war. Xiangru verstand diesen Zusammenhang und versuchte die Tatsache mit Selbstironie zu verdrängen, doch ohne Erfolg. Letztlich starb er an seiner Leidenschaft für Wenjun.
    Hier wurde die Krankheit so begriffen, wie Bian sie dargestellt hatte – Durstkrankheit als Folge romantischer Leidenschaft. Das hatte Bian scherzhaft mit der Durstkrankheit des Poeten gemeint.
    Chen schlug das Cihai , das umfangreichste Wörterbuch des Chinesischen, auf, wo xiaokeji eindeutig als Diabetes verzeichnet war. »Die Krankheit wird so genannt, weil sie die Patienten durstig und hungrig macht, sie scheiden viel Urin aus und wirken ausgezehrt.« Also nichts weiter als ein medizinischer Begriff, genau wie im Shiji .
    Er zog andere Nachschlagewerke zu Rate und dachte über die abergläubischen Vorstellungen nach, die sich im alten China um körperliche Liebe – genauer gesagt um die Ejakulation – gerankt hatten, da diese den Mann angeblich seiner Essenzen beraubte.
    Ob es nun philosophische oder abergläubische Denkweisen waren, stets war die Verbindung von Liebe und Tod das Grundthema für die literarische Version. Die Liebesgeschichte trug jenes Moment des »anderen« in sich, das die Romantik bedrohte.
    Auch in späteren Adaptationen erschien Wenjun als frivole und gefährliche Frau. Chen schrieb sich folgendes Zitat in sein Notizbuch: »Sie entzückte sich an Xiangrus Talenten und mißachtete die Riten.« Das Wort »Riten« unterstrich er, weil ihm dazu ein Zitat von Konfuzius einfiel: Handle stets im Einklang mit den Riten .
    Doch welches Verhalten sahen die Riten für den Fall vor, daß sich zwei Menschen ineinander verliebten?
    Als Chen weitere Bücher bestellte, teilte Susu ihm mit, daß es länger dauern könnte, da das Personal jetzt Mittagspause mache. Also entschloß auch er sich, etwas essen zu gehen. Das Wetter war warm für die Jahreszeit.
    Im nahe gelegenen Volkspark gab es eine billige, aber angenehme Kantine, in die ihn vor vielen Jahren seine Mutter einmal mitgenommen hatte. Er brauchte eine Weile, bis er sie wiederfand, und kaufte sich dort eine Styroporschachtel Bratreis mit Rindfleischstreifen, Frühlingszwiebeln und Austernsoße, dazu eine Fischsuppe im Pappbecher. Er hoffte, daß das Rindfleisch noch genausogut schmeckte wie damals beim Besuch mit seiner Mutter.
    Am liebsten hätte er dazu die traditionelle zhengguanghe -Zitronenlimonade getrunken, aber er entdeckte nur amerikanische Getränkemarken, deren Namen man appetitanregend ins Chinesische übertragen hatte: Coca-Cola hieß »Köstliches Getränk«; aus Pepsi waren »Hundert schmackhafte Dinge« geworden; Sprite war »Reiner Schnee«; 7-Up »Siebenfaches Glück«, und Mountain Dew wurde zur »Erregten Woge«. Immerhin hatten die amerikanischen Namen damit eine chinesische Note erhalten, überlegte er mit bitterem Lächeln.
    Sein Mobiltelefon begann erneut zu klingeln. Es war Überseechinese Lu, ein Schulfreund, der mittlerweile das Moskow Suburb betrieb, ein protziges Lokal,
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